Methodischer Lösungsvorschlag: Globale Mikrogeschichte
Die historische Erkenntnis beginnt mit der spezifischen Weise, wie wir in ihren Besitz gelangen
Globale Mikrogeschichte wird in den letzten Jahren immer häufiger als zukunftsweisender Ansatz der Globalgeschichte bezeichnet. Sie beschäftigt sich mit deren Blind Spots, also mit der Frage, von welcher Position aus Globalhistoriker*innen überhaupt sprechen und wie Globalgeschichte überhaupt betrieben werden kann und soll. Historiker*innen wie Sanjay Subrahmanyam, Francesca Trivellato, Giorgio Riello, John-Paul A. Ghobrial, Ewald Hiebl/Ernst Langthaler, Dagmar Feist , um nur einige zu nennen, stehen für diesen Ansatz. Die meisten von ihnen sind Expert*innen für die Frühe Neuzeit – was deshalb bemerkenswert ist, weil es unter anderem darum geht, das in der Frühen Neuzeit in Europa herausgebildete eurozentrische Weltbild zu überwinden. Obwohl sie sich für globale Fragen interessieren, stellen sie die alltäglichen Handlungen und Routinen der einfachen Menschen ins Zentrum ihrer Geschichte und der historischen Prozesse.
Die renommierte Zeitschrift Past & Present widmete der Globalen Mikrogeschichte 2019 ein Sonderheft (herausgegeben von John-Paul A. Ghobrial) mit Aufsätzen ganz unterschiedlicher Ausrichtung. Dabei wurde deutlich, dass der Begriff Globale Mikrogeschichte – wie auch Global-, Welt- oder Universalgeschichte – kein geschützter Begriff ist. Die Herausgeber*innen des Sonderhefts verdeutlichen jedoch, dass alle unterschiedlichen Definitionen einen gemeinsamen Nenner haben. Sie wenden die als Gegenpol zu einer strukturorientierten Sozialgeschichte entwickelte Mikrogeschichte auf globale Themenfelder an.
So gewinnbringend das Anliegen der Globalen Mikrogeschichten ist, so zeichnen sie sich wie die synthetisierenden Globalgeschichten ebenfalls durch einen Blind Spot aus, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Das Verhältnis von globalgeschichtlichem Erkenntnisinteresse und mikrogeschichtlicher Methode wird nicht hinreichend bestimmt, so dass der untersuchte Gegenstand unklar konturiert bleibt. In anderen Worten: Es wird nicht erklärt, wie von der Mikroebene des Handelns einzelner Akteure auf globale Entwicklungen geschlossen werden kann. Zwischen der Miko- und der Makroebene klafft eine konzeptionelle Lücke.
Dieser Befund bestätigt die Diagnose der ersten beiden Kapitel. Die Reflexion auf das Erkenntnisinteresse der Globalhistoriker*innen in Abhängigkeit von ihrer Positionalität hat unterstrichen, dass es keinen neutralen Ort geben kann, von dem aus Historiker*innen sprechen. Dennoch sollten wir am Wahrheitsanspruch festhalten und ihn nicht kultur-relativistisch oder radikal-konstruktivistisch auflösen. Wenn das Erkenntnisinteresse an die Positionalität der Historiker*innen gebunden ist und wenn dies den Zuschnitt des Gegenstands der Geschichtsschreibung maßgeblich beeinflusst, wie lässt sich dann gewährleisten, dass unterprivilegierte, subalterne Akteure und nicht hegemoniale Praktiken in die Geschichtsschreibung eingehen? Dass für diese Fragen eine konzeptionelle Lösung gefunden werden muss, war das Ergebnis des ersten Kapitels.
Die Problematik des globalgeschichtlichen Gegenstandes wurde im zweiten Kapitel aufgegriffen. Es zeigte sich auch hier ein Spannungsverhältnis. Zum einen sollten in der Globalgeschichte Akteure und ihre Praktiken in all ihrer Heterogenität sichtbar gemacht werden. Wie soll jedoch die Kluft zwischen der Mikroebene der Akteure und dem Prozess der Globalisierung so geschlossen werden, dass die Widersprüchlichkeit der Mikroebene auf der Makroebene sichtbar bleibt? Wie begegnet man der Gefahr, dass auf dem Weg von der Mikroebene zur Makroebene Gegenbewegungen, Widerstand oder Abbrüche kassiert oder verdeckt werden? Das Spannungsverhältnis zwischen Mikro- und Makroebene stellt sich verschärft bei der Betrachtung der Geschichte der Globalisierung. Wie konzipieren wir eine auf Verflechtungsbeziehungen zwischen Akteuren zielende Geschichte der Globalisierung so, dass wir Konvergenz, Divergenz und die Heterogenität globaler Dynamiken zur Sprache bringen und zugleich am Singular des Prozesses festhalten? Das zweite Kapitel verlangt demnach nach einer konzeptionellen Lösung, wie sich dieses Spannungsverhältnis auflösen lässt.
Der Vorschlag, den ich hier zur Diskussion stelle, beantwortet diese Fragen, indem er eine Methodik der Globalen Mikrogeschichte entwickelt. Die Grundidee der Globalen Mikrogeschichte ist, sowohl das Erkenntnisinteresse als auch die Gegenstandsbestimmung der Globalgeschichte praxistheoretisch zu wenden. Dem Problem der Positionalität begegnet sie mit der Selbstreflexion der Genese des eigenen Erkenntnisinteresses und mit größtmöglicher Multiperspektivität (3.1.). Der Untersuchungsgegenstand wird mit den sozialen Praktiken bestimmt. Diese können sich über Akteursgruppen (Communities of Practice) verbreiten, sie können mit gegenläufigen Praktiken kollidieren oder sich zu Bündeln oder Praxisformationen verbinden und gegenseitig überlagern. So versucht die Methode der Globalen Mikrogeschichte, die benannten Spannungsverhältnisse zwischen Mikro- und Makrodynamiken, zwischen Konvergenz und Divergenz sichtbar zu machen und dennoch eine Bewegung mit einer Richtung zu beschreiben (3.2.).
#Selbstreflexives Erkenntnisinteresse und die Grenzen der Hermeneutik
Die Notwendigkeit, die eigene Positionalität, mithin die eigenen Vorannahmen möglichst gründlich zu reflektieren und explizit zu machen, habe ich in Kapitel 2.1. schon ausführlich diskutiert. Daher stellt sich nun die Frage, wie die Methode der Globalen Mikrogeschichte dieses Nachdenken über die Positionalität beeinflusst. Das zirkuläre Bestimmungsverhältnis von Positionalität, Erkenntnisinteresse, Gegenstand und Methode macht es schwer, den ersten Faden in die Hand zu bekommen. Ohne dem Kapitel 3.2. vorzugreifen, in dem der Gegenstand der Globalgeschichte praxistheoretisch begründet wird, benötigen wir für die Reflexion der Positionalität eine Minimaldefinition der Globalgeschichte. Sie ist der Ausgangspunkt, um überhaupt bestimmen zu können, wie sich Positionalität und Erkenntnisinteresse an einer Globalgeschichte oder einer Geschichte der Globalisierung ausgestalten.
Die bereits eingeführte Minimaldefinition lautet: Globalgeschichte ist die Erforschung der strukturbildenden Wechselwirkungen oft widersprüchlicher Praktiken von Akteuren. Die Geschichte der Globalisierung beschäftigt sich darüber hinaus mit den globalen Dynamiken, die durch diese Wechselwirkungen über die Zeit hinweg angestoßen werden. Das daraus abgeleitete Erkenntnisinteresse bleibt zunächst ähnlich abstrakt und formal: Globalgeschichte und die Geschichte der Globalisierung haben bei einer derartigen Gegenstandsbestimmung die folgenden drei Fragen zu beantworten: Erstens, wie stellen sich diese Wechselwirkungen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt dar? Zweitens, lassen sich über die lokale Reichweite und Verbreitung von Praktiken hinaus regionale, transnationale oder globale Dimensionen ausmachen? Und drittens, entstehen durch die Wechselwirkung von Praktiken globale oder transnationale Strukturen (Globalgeschichte) beziehungsweise stoßen die Wechselwirkungen Veränderungen an, die als ein übergeordneter Prozess der Globalisierung zu verstehen sind (Geschichte der Globalisierung)?
Konkreter lässt sich das Erkenntnisinteresse erst bestimmen, wenn auch der Untersuchungsgegenstand eingegrenzt und ein konkretes Quellencorpus ausgemacht wird. Das Quellencorpus bestimmt die Arbeit von Historiker*innen grundlegend. Meist ist es lückenhaft, selten zufriedenstellend. Viele Fragen lassen sich mit den Spuren der Vergangenheit nicht beantworten. Die Grenzen der Aussagekraft historischer Quellen und die eigene Interpretationsarbeit zu verdeutlichen, ist daher seit Johann Gustav Droysen das Handwerkszeug der Historiker*innen: die Quellenkritik. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach der Überlieferungsgeschichte, die in Zeiten von KI wichtiger denn je ist. Es geht auch um die Kunst der Quellenauswertung und der Quelleninterpretation.
Für alle historischen Studien gilt, dass das konkrete Erkenntnisinteresse durch das Quellencorpus spezifiziert wird. In einer Globalen Mikrogeschichte ist jedoch zentral, dass es die Untersuchung der Wechselwirkung von lokalen und globalen Dynamiken ermöglicht. Dabei sollte die Methode dazu führen, dass unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, unterschiedliche Quellengattungen analysiert werden und so eine Multiperspektivität der Akteure eingefangen wird. Die Möglichkeiten, unterprivilegierten Menschen eine Stimme zu verleihen, sind in der Geschichtswissenschaft begrenzt. Gerade deshalb ist es wichtig, die überlieferten Quellen gegen den Strich zu lesen und sie daraufhin zu befragen, was sie beschweigen. Eine Geschichtswissenschaft, die auf hermeneutische Quellenexegese verzichtet und sich mit einer (post-)strukturalistischen Textinterpretation begnügt, vergibt diese Möglichkeit. „Die historische Erkenntnis beginnt mit der spezifischen Weise, wie wir in ihren Besitz gelangen“, schreibt Paul Ricoeur (Ricoeur 1985). Diese Art der Besitzergreifung müssen wir vollumfänglich reflektieren, wenn wir uns nicht von ihr bestimmen lassen wollen.
Exemplarische Einblicke in ein solches Vorgehen gibt das folgende Beispiel bezüglich der weltweiten Machtverschiebungen in Folge des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 und dessen langen Vorlaufs:
In diesem Krieg verlor Spanien seine letzten Kolonien in den Amerikas, die USA betraten als vermeintlich antikoloniale Großmacht die Bühne der Weltpolitik und in Kuba ging ein dreißigjähriger Unabhängigkeitskrieg zu Ende. Das globalgeschichtliche Erkenntnisinteresse fragt nach den globalen Machtverschiebungen und deren lokalem Widerhall oder auch umgekehrt nach den lokalen Handlungsweisen und den globalen Effekten. Wie sich das Erkenntnisinteresse in konkrete Forschung übersetzt, ist sehr variabel. Wer beispielsweise nach der zunehmenden Radikalisierung der „gente de color“ auf Kuba fragt, untersucht unter anderem, wie es 1908 dazu kam, dass sich der Afro-Kubaner Evaristo Estenoz genötigt sah, gemeinsam mit anderen Veteranen des Krieges von 1898 eine Partei zu gründen, deren Mitglieder überwiegend ehemalige versklavte Afro-Kubaner waren. Er nannte sie „Partido Independiente de Color“. Das Quellencorpus, das eine solche Fragestellung zu beantworten vermag, könnte aus Zeitschriften, in denen überwiegend Afro-kubanische Journalisten veröffentlicht haben, aus Ego-Dokumenten und Polizeiberichten bestehen – unterschiedliche Corpora sind denkbar. Je nach Untersuchungsgegenstand und Quellenlage wird sich das Erkenntnisinteresse dann ebenfalls spezifizieren müssen.
Im Gegensatz zu einer Lokal- oder Regionalgeschichte behält eine Globale Mikrogeschichte immer die Frage nach den globalen Effekten und deren Rückwirkungen im Blick. Eine aus älteren Studien abgeleitete Ausgangshypothese besteht bei diesem Beispiel darin, dass der intensive Kontakt mit der segregierten US-amerikanischen Armee auch in Kuba eine Dichotomisierung der Menschen (in vermeintlich Schwarze und Weiße) beförderte [Forschungsdiskussion]. Das globalgeschichtliche Erkenntnisinteresse lässt sich bezüglich des Beispiels folgendermaßen spezifizieren: Ein Zusammenspiel an vielschichtigen Praktiken, womit Menschen andere Menschen in unterschiedliche Gruppen unterteilten, hatte sich auf Kuba seit der Revolution auf Haiti 1792 herausgebildet und ständig weiterentwickelt [Kategorisierung von Gruppen, Ebene des Diskurses und der Praktiken]. Einen wichtigen Einfluss auf die Kategorisierungen von Menschengruppen in der Karibik hatte die Freundschaft von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) mit dem fast gleichaltrigen kubanischen Plantagenbesitzer, Unternehmer und Sklavenhändler Francisco Arrango y Parreño (1765-1837) [Mikrogeschichte einzelner Akteure]. Humboldt ließ sich bis in die 1830er Jahre immer wieder Zahlenmaterial von Arrango y Parreño schicken. Gemeinsam trugen sie dazu bei, Statistiken zum Herrschaftsinstrument zu machen. Freilich intendierten die beiden damit nicht, einen hegemonialen Diskurs zu etablieren. Dennoch trugen sie – neben vielen anderen – dazu bei, eine neue Praxis hervorzubringen, die mit Hilfe von Zahlenmaterial Regierungshandeln legitimierte und ausrichtete. Die Furcht vor einer zahlenmäßigen Überzahl nicht-weißer Menschen prägte die Propaganda, die 1908 zu dem Massaker an Afrokubaner*innen führte. Zu verstehen, wie sich dieser Diskurs herausbildete und die „governance by numbers“ zu einem globalen Phänomen wurde, weil sich auch in anderen kolonialen oder anderweitig asymmetrischen Kontexten der statistische Vergleich als eine besonders geeignete Herrschaftsform erwies, lehrt uns viel über Globalisierungsprozesse [globalgeschichtliche Ebene]. Das Nachdenken über die Positionalität sagt uns, dass sich die Gegenpraktiken in den Statistiken kaum niederschlagen. Immer wieder musste die Datenerhebung verbessert werden, weil sich große Teile der Bevölkerung nicht an Befragungen beteiligten oder aber falsche Angaben machten. Dies rief einen über viele Jahrzehnte anwachsenden Widerstand hervor. Diese Praktiken und Gegenpraktiken stellten den historischen Resonanzraum dar, in dem sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auf Kuba Menschen unterschiedlicher sozialer und rassistisch oder religiös begründeter Gruppierungen gegenüberstanden. Nach dem Krieg 1898 wurde das komplexe Zusammenspiel dieser vielfältigen Praktiken innerhalb von nur zehn Jahren in eine schlichte Dichotomie überformt, in der nur noch die Kategorie der ‚Rasse‘ mit nur zwei Untertypen (schwarz und weiß) in Anschlag gebracht wurde. Das Beispiel lässt sich an dieser Stelle nicht vollkommen ausführen, wird aber in einer Studie derzeitig untersucht. Damit verbunden ist die Frage, ob der kubanische Fall dazu beigetragen hat, die „color line“, auf globaler Ebene zu einer Grunddifferenzierung werden zu lassen – ein Begriff und eine Prognose für das 20. Jahrhundert, die der bereits erwähnte Soziologe Du Bois 1903 geprägt hat.
Die Reflexion auf die eigene Positionalität ist damit noch nicht abgeschlossen. Historiker*innen haben durch ihre wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Sozialisation nicht nur ein bewusstes Wissen, sondern auch ein „tacit knowledge“ erworben, wie Geschichte zu schreiben ist. Und dazugehört auch, wer und was zu zitieren ist, wenn man selbst ebenfalls zitiert werden möchte. Sie stehen innerhalb einer „community of practice“, die bestimmte Begriffe verwendet, bestimmte Methoden einsetzt und bestimmte Erzählmuster ausbildet. Johann Gustav Droysens Forderung, die Geschichte der eigenen Fragestellung zu reflektieren , wird in der Globalen Mikrogeschichte also ausgeweitet auf die Reflexion aller mit der Geschichtsschreibung verbunden Praktiken.
In der Globalen Mikrogeschichte wird – zusätzlich zu den Forderungen Droysens – das Zusammenspiel von Erkenntnisinteresse, Gegenstand und Methode kritisch beleuchtet. Die Globale Mikrogeschichte wird über gemeinsame Autorenschaft oder Forschungsliteratur versuchen, aus unterschiedlichen Kontexten eine Vielstimmigkeit herzustellen. Zudem wird eine Globale Mikrogeschichte nach dem Entstehungskontext fragen, in dem die Studie zu verorten ist, und die Genese der jeweiligen Fragestellung analysieren: In welche Tradition stellt sich die eigene Forschung? Wer hat diese Tradition warum geprägt? Wer gerät durch die Fragestellung in den Blick? Wer oder was wird ausgeschlossen? Wovon gibt es keine Quellen? Was sagen diese Lücken aus?
#Gegenstand: Handlungen, Praktiken und Praxisformationen
Wenn wir in der Globalgeschichte den „micro-macro-divide“ schließen wollen, dann benötigen wir eine Methode, die genauer beleuchtet, wie sich das individuelle Handeln von Akteuren in eine sozial geteilte Praktik übersetzt und wie die soziale geteilte Praktik globale Strukturen hervorbringen und globale Prozesse initiieren kann. Damit die Methodik der Mikrogeschichte in globalen Zusammenhängen greift, muss der untersuchte Gegenstand sowohl eine globalgeschichtliche Dimension als auch einen klaren Akteursbezug aufweisen. Wie bereits betont, geht es der Globalen Mikrogeschichte nicht darum, die ganze Welt in den Blick zu nehmen. „Global“ heißt in unserem Zusammenhang, Bezüge zu unterschiedlichen Weltregionen herzustellen, die transregional und in einem spezifischen Sinne „global“ wirksam sind.
Globale Mikrogeschichte orientiert sich an Akteuren und vermisst zugleich einen globalen Interaktions- oder Resonanzraum. Der Interaktions- oder Resonanzraum – und das verkompliziert die Sache – ist jedoch nicht einfach vorgängig vorhanden. Vielmehr wird er durch das, was Akteure tun, erst hervorgebracht. Das Handeln von Akteuren, das Etablieren von Praktiken und die Erzeugung eines globalen Interaktionsraums stehen also in gegenseitiger Abhängigkeit. Konzeptionelle Aufgabe der Globalen Mikrogeschichte ist es, das Ineinandergreifen der Ebenen genau zu fassen, auch um auf andere Beispiele anwendbar zu sein. Im Folgenden soll ein Vorschlag gemacht werden, wie sich das Verhältnis von Mikro-, Meso- und Makroebene mithilfe der Praxistheorie bestimmen lässt.
Leicht fassbar ist ein solcher globaler Interaktions- oder Resonanzraum, sobald Verflechtungsbeziehungen erforscht werden, die verschiedene Weltregionen miteinander in Beziehung bringen. Man denke an Migrationsbewegungen, an transregionalen Handel, aber auch an Kriege oder die Zirkulation von Wissen. Bei anderen Themenfeldern wird erst auf den zweiten Blick deutlich, worin eine transregionale Dimension liegen könnte. Ein gutes Beispiel sind Körperpraktiken. Obwohl sie direkt an Einzelakteur*innen gebunden sind, sind sie weder individuell noch über einen klar umgrenzten Personenkreis zu bestimmen. Nicht nur der Sport (Stichwort: Olympische Spiele), sondern auch Kleidungsstile (Stichwort: Kleidung von Diplomat*innen) oder Essgewohnheiten (Stichwort: das Verlangen nach Zucker oder internationale Restaurants) weisen dabei häufig eine weit über einzelne Gruppen hinausgehende, globale Dimension auf.
Es ist kein Zufall, dass Christopher Bayly im Untertitel seines beeindruckenden Buches zur Geburt der modernen Welt von „Uniformierung“ spricht. Wie die Uniformen in modernen Armeen Unterschiede der Herkunft und der sozialen Milieus der Soldaten verschwinden ließen, so hätten sich auch die Kleidungsstile der Diplomat*innen vereinheitlicht. Baylys Pointe ist dabei, dass die Vereinheitlichung der Kleidung nicht mit einer Vereinheitlichung der Denkweisen einhergehen müsse. Divergenz und Konvergenz gehen auch in Baylys großer globalgeschichtlicher Synthese häufig Hand in Hand.
Seit ungefähr 20 Jahren prägen praxistheoretische Ansätze die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie beziehen sich dabei auf recht unterschiedliche Traditionen. In der der Philosophie reichen die Bezüge von dem Semiotiker Charles Peirce über Ludwig Wittgenstein hin zur Sprechakttheorie von John Austin und John Searle. In der Soziologie ist die Praxistheorie mit Namen wie Pierre Bourdieu (Bourdieu 1976), Anthony Giddens , Theodore Schatzki und Andreas Reckwitz verbunden. Aber auch in anderen Disziplinen wurden wichtige Aspekte der Praxistheorie entwickelt, man denke etwa an Judith Butler (1995). Deren Differenzen und Gemeinsamkeiten wurden immer wieder herausgearbeitet. Hier möchte ich mich darauf konzentrieren, das Wechselverhältnis zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene näher zu bestimmen.
Für die Frage, wie das Wechselverhältnis zu bestimmen ist, waren die Ausführungen von Ronald Robertson und Georg Ritzer zum Begriff der „Glokalisierung“ um die Jahrtausendwende grundlegend. Sie wiesen von Anfang an auf das Spannungsverhältnis von Homogenisierung („McDonaldization“) und Tendenzen zur unterschiedlichen Adaption durch lokale Kulturen hin. Die Fragen danach, wie genau lokale Kulturen auf übergeordnete Prozesse einwirkten, welche Asymmetrien welche Adaptionen ermöglichten, wie Adaptionen Machtverhältnisse stabilisierten oder unterwanderten, standen nicht im Zentrum. Daher ist das Wechselverhältnis der unterschiedlichen Ebenen bis heute eine der spannendsten Forschungsfragen der Global Studies zwischen Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft geblieben – man denke an die Vorschläge von Theodore Schatzki, Julian Go oder George Lawson.
Andere Ansätze, wie beispielsweise die Akteur-Netzwerk-Theorie von Latour, gehen von flachen Ontologien in Verflechtungsräumen mit unterschiedlicher Ausdehnung aus. Das Globale lässt sich dann nicht kategorisch vom Lokalen trennen. Warum es wichtig ist, das Globale als eine Ebene zu fassen, die ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, haben Studien zur Soziologie der Weltgesellschaft und zur Weltpolitik als eigenen Kommunikationsraum überzeugend herausgearbeitet. Auch wenn es theoretisch anspruchsvoll ist, sollte es das Ziel bleiben, mit der Methode der Globalen Mikrogeschichte die Widersprüchlichkeit, die Überlagerung, die Uneinheitlichkeit menschlichen Handelns auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen sichtbar zu machen.
Die Mikroebene der Globalen Mikrogeschichte
Bezeichnet die Mikroebene der Globalgeschichte die individuelle Handlung eines individuellen Akteurs oder eine Einzelpraktik? Auch wenn jedes Handeln immer schon in Praktiken verstrickt ist, möchte ich dafür plädieren, die individuelle Handlung von einer sozial geteilten Praktik analytisch zu unterscheiden. Die meisten Praxistheoretiker*innen würden dem zwar widersprechen , doch bei Historiker*innen stößt der Vorschlag, statt auf Einzelakteure die Aufmerksamkeit eher auf eine mittlere Aggregatsebene zu lenken, auf breite Zustimmung. Dies hat mindestens zwei Gründe: Viele Historiker*innen sind mit einem vorrangigen Interesse an Strukturen sozialisiert. In der Tradition von Marc Bloch und Lucien Febvre und der damit verbundenen Abkehr von der historistisch geprägten Geschichte der „Annales“-Schule und der Sozialgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Interesse an einzelnen Akteuren gering. Die Sozialgeschichte stand aus guten Gründen einer hermeneutischen Methode skeptisch gegenüber, die den Intentionen der Individuen nachspürte und den Eindruck erweckte, ihre Protagonist*innen hätten über den Gang der Geschichte tatsächlich entscheiden können. Wollte man den Nationalsozialismus und den Holocaust erklären, erschien ihr ein Ansatz, der auf das „Verstehen“ setzte, unerträglich. Andere Historiker*innen sind eine akteurslose Geschichte gewöhnt, weil seit den 1970/80er Jahren poststrukturalistische Ansätze und insbesondere die historische Diskursanalyse nach Michel Foucault, weiterentwickelt durch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, ähnlich argumentiert haben. Auch sie wollten sich, wenn auch aus anderen Gründen, ebenfalls von der Hermeneutik verabschieden. Die Diskursgeschichte hat mit Rückgriff auf Nietzsche die Frage nach dem Ursprung einer Handlungsweise oder eines Gedankens in die Frage nach den vielen Ursprüngen aufgelöst. Aus der Frage nach der Genese einer Entwicklung wurde die Frage nach der Genealogie des Diskurses. Analog kann man praxistheoretisch argumentieren, es gebe keine Einzelhandlung, die als Ursprung einer später sozial geteilten Praktik identifiziert werden könnte. Ein Ursprung sei deshalb nicht zu identifizieren, weil die kleinste Ebene historischen Geschehens die Einzelpraktik sei. Eine Einzelpraktik entwickele sich durch Verschiebungen, Überlagerungen und Konflikte vorgängiger Praktiken. Ein Ursprung im eigentlichen Sinne sei dabei nicht auszumachen.
Auf den ersten Blick gewinnt der Verzicht auf Intentionen in Anthony Giddens Praxistheorie besondere Überzeugungskraft. Er ist der Meinung, dass die Intention einer Handlung nicht vor der Handlung stehe, sondern erst durch die Umsetzung in die Praxis zustande komme. Obwohl der Akteur aus bestimmten Gründen handele, könnten diese nicht von der Handlung selbst getrennt werden. Erst während der Handlung bilde sich durch eine kontinuierliche Handlungsbeobachtung eine Ausrichtung der Handlung heraus. Zielgerichtetes und insofern intentionales Handeln, so Giddens, beruhe daher auf der „Reflexivität“ während des Handlungsvollzugs. Ihm zufolge motivieren daher nicht die Absichten der Akteure ihre Handlungen. Vielmehr – und das ist der entscheidende Unterschied – stellen Praktiken „Ermöglichungsbedingungen“ für Handlungen dar. Sie sind den Handlungen jedoch nicht vorgängig, sondern stehen in einem reziproken Verhältnis. Sie werden zugleich durch Wiederholungen von Handlungen hervorgebracht, stabilisiert und transformiert. Diese Argumentation überzeugt insofern, als jedes Handeln immer schon in soziale Interaktionen eingebunden und nicht autonom denkbar ist. Zudem unterstreicht es mit dem Begriff der Reflexivität, dass die Alltagserfahrung, dass die Absicht einer Handlung nicht ihre Effekte bestimmt.
Der Verzicht auf den intentionalen Handlungsbegriff hat jedoch erhebliche Folgekosten und führt darüber hinaus zu einem logischen Widerspruch. Wer auf den Handlungsbegriff verzichtet, verzichtet auch auf den Begriff der Intention, mit der eine Handlung motiviert wird. Als Historiker*innen wissen wir, dass die Intention einer Handlung oft verdeckt bleibt, weil die Quellen darüber keine Aussagen erlauben. Wir wissen auch, dass Akteure häufig etwas willentlich erreichen wollen, sie eine Intention selbst sogar behaupten, ihre Handlung aber entweder in eine ganz andere Richtung weist, oder aber wenn sie unwillentlich zu einem ganz anderen Ziel führt, als ursprünglich intendiert. Ob man über etwas keine Aussage treffen kann, weil die Quellen dazu schweigen, ob es einen performativen Widerspruch zwischen Sprechen und Handeln gibt, oder ob etwas anders kommt, als die historischen Akteure dachten, all dies ist etwas ganz anderes als zu behaupten, es gebe keine Handlungsintention. Die Tatsache, dass Intentionen Handlungen veranlassen, heißt weder, dass Historiker*innen diese Intention erkennen, noch dass Akteure die Folgen ihrer Handlung kontrollieren könnten. Nichtintendierte Nebeneffekte, das hat Doris Gerber in aller Klarheit verdeutlicht, sind kein Einspruch gegen die Intentionalität einer Handlung. Vielmehr sind Intentionen die Voraussetzung nichtintendierter Effekte. Für historische Prozesse sind die nichtintendierten Nebeneffekte oft die entscheidenden. Wer jedoch auf die Intentionalität einer Handlung verzichtet, kann weder klären, warum eine Handlung ausgeführt wurde, noch wer dafür die Verantwortung trägt. Die Absicht – sei es die Absicht eines Akteurs, die eigene Handlung zu beobachten und nachzujustieren, sei es die Absicht zu handeln oder auch nicht zu handeln – wird auch von Giddens vorausgesetzt. Hinzukommt, dass die Erklärbarkeit einer Handlung und die Zuschreibung von Verantwortung für eine Handlung an den Begriff der Intentionalität gebunden sind.
Auf diese Defizite hingewiesen zu haben, ist das Verdienst der als Gegenbewegung zur Sozialgeschichte entstandenen Geschlechtergeschichte, Alltagsgeschichte und insbesondere der Mikrogeschichte. Von Anfang an betonten Historikerinnen, dass es der Geschlechtergeschichte nicht nur darum gehe, Frauen als Akteure sichtbar zu machen – das freilich auch. Im Zentrum stehe vielmehr das Anliegen, eine andere Sicht auf Strukturen zu entwickeln. Der zentrale Gedanke lässt sich auf den abstrakten Nenner bringen, dass die Geschichtswissenschaft untersuchen solle, wie Einheiten mittels der Beziehung zu anderen Einheiten hervorgebracht werden. Im Zentrum steht nicht eine Geschichte der Beziehung von Männern und Frauen im Sinn einer Patriarchatsforschung, sondern die ‚relationale‘ Bestimmung von Geschlechtern innerhalb von Gesellschaften. Dieses relationale Denken kann auf alle geschichtswissenschaftlichen Gegenstände übertragen werden.
Mikrogeschichtliche Ansätze haben von Anfang an den Anspruch formuliert, globalgeschichtliche Beziehungen in die Untersuchung zu integrieren. Auch wenn sie sich häufig Einzelschicksalen zuwandten, wie Benedict Anderson oder Natalie Zemon Davis , ging es doch darum, am Einzelfall das Paradigmatische aufzuzeigen. Vom Einzelfall ausgehend sollte den Fäden nachgegangen werden, die von den Akteuren selbst ausgeworfen wurden. Dies betrifft auch die Art und Weise, wie eine Quelle zu einer historischen Spur der Vergangenheit wird und welche Schichten bei einer heutigen Interpretation abgetragen werden müssen, um doch nie bei dem anzukommen, wie es eigentlich gewesen ist.
Das Leben der Glikl bas Judah Leib, dem auch Natalie Zemon Davis einen Essay widmete, soll einen Eindruck vermitteln, wie eine Annäherung an die von der historischen Spur ausgeworfenen Fäden aussehen könnte: Das Leben der jüdischen Kauffrau Glikl bas Judah Leib (1647-1724) hat in den letzten Jahren immer wieder Beachtung gefunden. Erst 2019 entstand eine neue Übersetzung ihrer autobiographischen Schrift ins Englische. Die bis heute einschlägige deutsche Übersetzung stammt von Bertha Pappenheim (1859-1936). Bertha Pappenheim, geboren in Wien, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der bekanntesten deutschsprachigen Frauenrechtlerinnen. Auf Beschluss des International Council of Women, einer der ersten internationalen Frauenorganisationen, gründete sie 1904 den Jüdischen Frauenbund in Deutschland. Neben ihren vielfältigen schriftstellerischen, politischen und sozialen Aktivitäten übersetzte und redigierte sie die westjiddische Autobiographie ihrer fernen Verwandten aus dem 17. Jahrhundert: Glikl bas Judah Leib (1689-1724). Das frühneuzeitliche Selbstzeugnis ist äußerst komplex und warf auch für Pappenheim Rätsel auf. Sie schreibt im Vorwort ihrer Übersetzung, Glikl gebe „in bunter Reihenfolge Erinnerungen an die Ereignisse der großen Welt, Schilderungen der Vorkommnisse aus ihrem engeren Kreise, Einblicke in reges Geschäftstreiben, Bilder aus dem Familien- und Gemeindeleben, Reiseerlebnisse, und dazwischen Erzählungen und Legenden, alles in ureigentümlichster Auffassung und Darstellung“.
Das Handelsnetzwerk, das Glikl bespielte, erstreckte sich über zahlreiche deutsche und europäische Länder. Es ermöglichte ihr, den Handel mit Diamanten und Perlen von Indien bis in die „Neue Welt“ zu organisieren. Mit zwölf Jahren verlobt, mit 14 Jahren verheiratet, brachte sie 14 Kinder zur Welt. Im 17. Jahrhundert war es auch für wohlhabende Familien außergewöhnlich, dass von diesen 14 Kindern zwölf das Erwachsenenalter erreichten, selbst Familien gründeten und einige von ihnen ebenfalls erfolgreiche Unternehmen führten. Nachdem die reiche Witwe mehrere Anträge ausgeschlagen hatte, heiratete sie mit fünfzig Jahren den Bankier Cerf Isaac Levy Rabbin aus Metz. Ökonomisch konnte das Paar nicht an Glikls frühere Erfolge anschließen. Nach dem wirtschaftlichen Bankrott starb sie 1724 mittellos im Haus ihrer Tochter in Metz.
Die „bunte Reihenfolge“ der Textpassagen war typisch für diese Art von Selbstzeugnissen in der Frühen Neuzeit. Geschrieben für die eigene Großfamilie mit ihren zahlreichen Nachkommen waren Glikls Memoiren zwar nicht für die Drucklegung, aber doch für eine begrenzte Öffentlichkeit verfasst und behandelten Persönliches ebenso wie weltgeschichtliche Ereignisse. Die „bunte Reihenfolge“ war jedoch keineswegs zufällig, vielmehr verbarg sich dahinter eine sorgfältiger und bewusst konstruierter Text mit einer ungewöhnlichen literarischen Struktur. Das Original ist nicht erhalten. Ihr Sohn Moshe und ihr Engel Hayyim fertigten jedoch Kopien an, die über Generationen weitergereicht wurde. bis sie 1896 zum ersten Mal von David Kaufmann (1852-1899) veröffentlicht wurden. Hörbar ist die Stimme einer Frau, die, zwar selbst hoch gebildet war, jedoch keinen Zugang zum Studium der Tora und des Talmuds hatte und die sich daher weniger an den Traditionen der Geschichtsdeutungen orientierte als ihre jüdischen männlichen Zeitgenossen.
Wenn uns ihre Intentionen auch nicht mit Gewissheit zugänglich sind, so zeigt der Text eine hohe Eigenständigkeit der Autorin und den Charakter einer selbstbewussten und zugleich durch viele Schicksalsschläge und von großer Unsicherheit geprägten Frau. Die Autorin tritt den Nachkommen als selbstbewusst handelnde Kauffrau entgegen, die weder die engen sozialen, religiösen und familialen Regeln in Frage stellt, noch weltpolitische Entwicklungen oder gar globale wirtschaftliche Zusammenhänge kommentiert. Der Handel über weite Entfernungen, der ein hohes Vertrauen in persönliche Beziehungen erforderte, wird als vollkommen selbstverständliche Unternehmung geschildert – so die oberflächliche Lektüre. Freilich scheinen auch Konflikte mit Geschäftspartnern auf, insbesondere mit Handelsvertretern in anderen Städten, aber Gewalterfahrungen, Kriege, die als Nebeneffekt auch Reisen und damit Handel verhinderten, Zollschranken, Wechselprobleme, beschwerliche Kutsch- oder Schifffahrten, Bedrohung durch Piraterie und Überfälle werden ebenso beiläufig erwähnt wie die immer wieder aufflackernde Pest oder die Vertreibung von Juden aus Hamburg.
Trotz der überregionalen Anklänge handelt es sich bei der autobiographischen Schrift um ein Zeitzeugnis mit begrenztem Anspruch, aber hohem Quellenwert. Sie ermöglicht die Annäherung an globale Wirtschaftsstrukturen durch die Rekonstruktion der (Handels-) und familialen Beziehungen von Akteuren, die an einer Unternehmung beteiligt sind. Ökonomische Netzwerke und Verbünde wie die Hanse oder die Handelskompanien der Frühen Neuzeit, aber auch jüdische Handelsnetzwerke, beispielsweise zwischen Amsterdam und Warschau im 18. Jahrhundert, können beleuchten, welche Rolle Akteuren bei der Herausbildung und Verfestigung kolonialer Strukturen zukommt. Gemeinsam war den damaligen Handelsnetzwerken, dass der Zugang Frauen zwar schwer, aber nicht unmöglich war. In Hamburg (wie auch im dänischen Altona oder Wandsbek) kam für Glikl jedoch erschwerend hinzu, dass zu ihren Lebzeiten der Großteil der jüdischen Bevölkerung sephardische Jüd*innen waren. Die Sephardim waren nach der Reconquista, der Rückeroberung von Al Andalus (Kalifat von Córdoba) durch die christlichen kastilischen Könige („Reyes Católicos“), von Spanien und Portugal überwiegend in den Maghreb, ins Osmanische Reich und nach Italien geflüchtet. Eine Minderheit aber war in nordeuropäische Hafenstädte wie Amsterdam oder auch Hamburg geflohen. Während unter islamischer Vorherrschaft eine (spannungsreiche) Koexistenz von Judentum, Christentum und Islam praktiziert wurde, erließen die Reyes Católicos im Jahr der „Entdeckung“ Amerikas das sogenannte Alhambra-Edikt. Damit stellten sie die jüdische Bevölkerung vor die Wahl, entweder ins Exil zu gehen oder zum Christentum zu konvertieren. Muslime, Mozaraber (an islamische Lebensweisen akkulturierte Christen) und Juden wurden nun gleichermaßen verfolgt. Die Fäden, denen eine Globale Mikrogeschichte anhand der Biografie Glikls nachgehen könnte, führten in der Geschichte weit zurück.
Glikl und ihre Familie gehörten nicht zu den Nachkommen der Sephardim, sondern zu den Hamburger Aschkenasim. Bis auf eine kleine, in deutschen Gebieten verbleibende Minderheit lebten in der Frühen Neuzeit die meisten Aschkenasim in der Region des heutigen Polen, Litauens und der Ukraine. So erklären sich die intensiven Geschäftsbeziehungen Glikls nach Polen, wohin auch mindestens einer ihrer Söhne übersiedelte, um das dortige Netzwerk weiter auszubauen. Aber auch nach Amsterdam waren die Beziehungen besonders eng. Vermutlich waren ihre Handelspartner auch dort keine Sephardim, da sie Kontakte zu ihnen selten und wenn, dann als Ausnahme schilderte.
In Glikls Fall war die Einbindung und das Mitgestalten von Fernhandelsbeziehungen eng mit der jüdischen Geschichte verbunden. Im Zentrum des Handelsnetzwerkes standen jedoch die großen Handelskompagnien, in ihrem Fall die VOC. Das lag an der spezifischen Ware, mit der Glikl handelte: Diamanten. Die Geschichte des Diamantenhandels hat in den letzten Jahren besonderes Interesse geweckt, da sie sich zum einen inhaltlich in eine umfassende Geschichte des Luxus und zum anderen methodisch in die Erforschung der Geschichte von Globalen Warenketten einordnen lässt. Der frühneuzeitliche Diamantenhandel der Amsterdamer Aschkenasim hat schon viel früher Aufmerksamkeit erhalten. Der Handel mit Diamanten kann ebenso als ein integraler Teil der Geschichte des Kapitalismus und Kolonialismus verstanden werden. Die Verbindung von akteurszentrierter Wirtschaftsgeschichte und globalen Strukturen bieten nicht nur die erwähnten Handelsnetzwerks- und Unternehmensgeschichten, sondern auch die Geschichte globaler Waren.
Die Schrift der jüdischen Kauffrau zeigt auf eindrückliche Art und Weise, wie vor dem Hintergrund der Verwerfungen des 30-jährigen Krieges der Glaube an eine göttliche Fügung der Geschichte schwer erkämpft werden musste. Richard Block resümiert seine Interpretation der Schrift mit der These, die Genealogie der Ereignisse sei Glikls einzige Möglichkeit gewesen, sich in einer Welt zu behaupten, in der ihr Glaube tagtäglich angegriffen und von Juden, die sich falsche Hoffnungen auf den kommenden Messias machten, auf die Probe gestellt worden sei.
Die kurze Vignette zum Leben der Glikl bas Judah Leib verdeutlich, wie viel Potential in der Methode der Globalen Mikrogeschichte steckt. Globale Handels- und Glaubensnetzwerke und diskursive Praktiken der Geschichtsdeutung bildeten einerseits den Hintergrund der autobiographischen Schrift, andererseits wurden sie durch die Außenseiterposition Glikls zugleich verändert, transformiert und streckenweise konterkariert.
Die Mesoebene der Globalen Mikrogeschiche
Praktiken, seien es diskursive Praktiken oder andere routinisierte Handlungsweisen, bezeichnen in der Globalen Mikrogeschichte den Übergang von der kleinsten Analyseeinheit zur Mesoebene. Eine Praktik ist mehr als eine Einzelhandlung. Mit Andreas Reckwitz lässt sie sich als „typisiertes, routinisiertes und sozial ‚verstehbares‘ Bündel von Aktivitäten“ definieren. Die Grundannahme der hier entwickelten Globalen Mikrogeschichte unterscheidet sich von Reckwitzens Ansatz, dass Praktiken hinreichend nur über den Vollzug (Performanz) von Handlungen bestimmt werden können. Der performative Akt und damit die individuelle Handlung ist ihr Kern. Die Handlung ist daher die kleinste Analyseeinheit. Wie bereits betont, ist eine Handlung nicht ausschließlich aus sich selbst zu erklären, sondern mit Praktiken verwoben. Dies gilt auch für diskursive Praktiken. Die Praktiken vermitteln die Einzelhandlung mit den sozial geteilten Handlungsweisen von Akteuren.
Die Globale Mikrogeschichte steht, wie die Diskursgeschichte, im Gegensatz zu einer klassischen Ideengeschichte. Sie nähert sich diskursiven Praktiken nicht, indem sie die oft versteckten Intentionen der Autoren erkundet. Vielmehr fragt sie nach wiederkehrenden Mustern, nach Kollokationen – also Reihungen und Kombination – von sprachlichen Elementen. Sie untersucht beispielsweise, welche Begriffe/Praktiken mit welchen Begriffen/Praktiken gemeinsam auftauchen, wie sie sich zueinander verhalten, ob sich durch die spezifische Kombination von Begriffen/Praktiken eine implizite Bedeutung oder ein Wandel in der Bedeutung ableiten lässt und ob sich im Laufe der Zeit oder des jeweiligen Kontextes andere Verbindungen ergeben. Die Globale Mikrogeschichte bleibt, anders als die Diskursanalyse, nicht auf der Ebene des Diskurses stehen, sondern versteht den Diskurs als eine Praxis, die sich wie andere Praktiken auch mit derselben Methodik untersuchen lässt. Auch diskursive Praktiken versteht sie als Handlungen, als Sprachhandlungen. Wenn diese sich zu wiederkehrenden, routinisierten Mustern formieren und ihre individuelle Differenz einer gemeinsamen Richtung weicht, wenn sich also Handlungen zu Praktiken verdichten, dann können sie sich mit anderen Praktiken verbinden und gemeinsam eine Struktur oder einen Diskurs bilden. Was Michel Foucault Dispositive nennt , kann in der Praxistheorie analog als Bündel von Praktiken oder als Praxisformation bezeichnet werden.
Warum ist die Unterscheidung zwischen Handlungen und Praktiken wichtig? Die Handlungen, die sich zu einer Praktik fügen, können unterschiedlich motiviert sein. Eine Praktik, so routinisiert sie auch sein mag, zerfällt bei näherer Betrachtung in unterschiedliche Intentionen. Veränderungen, Neuerungen und Widersprüche – aber auch allgemeine Entwicklungen – lassen sich nicht ohne Rückgriff auf die kleinste historische Einheit, auf das Handeln der Akteure erklären. Es sind die einzelnen Handlungen und die Intentionen, die in unterschiedliche Richtungen weisen und sich häufig widersprechen. Im Gegensatz zur Diskursgeschichte löst die Globale Mikrogeschichte, wie sie hier vorgestellt wird, den Akteur und seine Intentionen nicht auf. Vielmehr werden Akteure, ihre Handlungen, ihre routinisierten, sozialen Praktiken und die daraus entstehenden Strukturen als ein Kontinuum verstanden, je nach der Nähe oder Distanz der Historiker*innen zu ihrem Untersuchungsgegenstand.
Dass der Unterschied zwischen routinisierter, sozial geteilter Praktik und der individuellen Handlung eine Frage von Nähe und Distanz der Untersuchung ist, lässt sich anhand des Bildes einer Kordel verdeutlichen. Deren einzelne Fasern können unterschiedliche Farben haben, doch die Kordel erscheint – mit einem gewissen Abstand betrachtet – als einfarbig. Erst beim näheren Betrachten unter der Lupe wird die Vielfalt der einzelnen bunten, kürzeren oder längeren Fasern sichtbar. Das Farbenspiel der Kordel, ihre Reißfestigkeit, ihre Biegsamkeit ändern sich in Abhängigkeit der Fasern. Verschiedene Kordeln können ein Tau bilden. Versteht man Strukturen praxistheoretisch, dann bestehen Strukturen aus einem Bündel von zu Praktiken verfestigten Handlungen. Wenn, um im Bild zu bleiben, die Fasern ausdünnen, dann wird auch die Kordel immer dünner, bis sie irgendwann ganz verschwindet. Ebenso verblasst die Praktik, wenn bestimmte Handlungen nicht mehr ausgeführt werden.
Daraus folgt dreierlei: Erstens gibt es jenseits des Vollzugs von Praktiken keine Struktur. Selbst wenn Strukturen materiell verfestigt sind, verlieren sie ihre Funktion, wenn sie nicht mehr genutzt werden. Ihre Funktion kann jedoch verschoben, transformiert oder durch neue Praktiken überschrieben werden. Zweitens ist jede Struktur einem ständigen Wandel unterworfen, weil sie sich aus dem Vollzug von Praktiken zusammensetzt, die sich wiederum aus Handlungen fügen. Eine Handlung bleibt schon allein aufgrund ihres zeitlichen und örtlichen Indexes – sie wird zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmen Ort ausgeführt – etwas Einmaliges. Sie kann sich, selbst wenn sie von demselben Akteur vollzogen wird, niemals identisch wiederholen. Sie wird von Praktiken provoziert beziehungsweise ermöglicht. Drittens entstehen Praktiken durch Wiederholungen, die – obwohl sie immer eine Abweichung des Wiederholten darstellen – den Wandel stabilisieren. Das zu Erklärende ist aus praxistheoretischer Sicht weniger der Wandel als solcher, sondern vielmehr die Frage, wie eine Verstetigung von Praktiken über einen längeren Zeitraum gelingt.
Die Mesoebene der Globalen Mikrogeschichte lässt sich mit zwei weiteren Begriffen analytisch ausdifferenzieren: der Community of Practice und der Praxisformation. Praktiken werden meist innerhalb von Communities of Practice ausgebildet, wie dies Étienne Wenger bezeichnet hat. Eine solche Community kann der örtliche Fußballverein sein, der sich von anderen Fußballvereinen unterscheidet, aber beim Spiel dieselben Regeln anwendet. Es kann aber auch eine Community sein, deren Mitglieder sich niemals begegnen und die vielleicht auch nichts voneinander wissen, aber die durch bestimmte Handlungsweisen miteinander verbunden sind.
Es kann in einer Untersuchung sinnvoll sein, analog zum marxistischen Klassebegriff, zwischen einer Community of Practice an sich und einer Community of Practice für sich zu unterscheiden. Nur die Community of Practice für sich ist sich der Gruppenbildung selbst bewusst. Ein prozessual gedachter Begriff der Community of Practice ist insbesondere dann für die Untersuchung von Interesse, wenn mit der geteilten sozialen Praktik der Gruppenbildung auch Abgrenzungsintentionen verbunden sind. Dies trifft meist bei Professionalisierungsschüben zu, also bei der Herausbildung von professionell definierten Berufen mit einem zertifizierten Ausbildungsweg und verbindlicher Kompetenzkontrolle. Die oben erwähnten Lebensmittelchemiker waren so eine Community of Practice für sich. Sie trafen sich auf nationaler und internationaler Ebene, gründeten nationale und übergreifende Verbände und hatten ein gemeinsames Ziel: Durch Einflussnahme auf die gesetzlichen Regelungen machten sie lebensmittelchemische Untersuchungen unumgänglich. Lebensmittel, die einer zuvor definierten Zusammensetzung nicht entsprachen, wurden zu Lebensmittelfälschungen umcodiert. Ein- und Ausschluss gehören bei der Netzwerkbildung zentral dazu.
Die Makroebene der Globalgeschichte
Die Makroebene konsequent praxistheoretisch zu bestimmen, ist am schwierigsten. Hierzu liegen noch keine vollkommen überzeugenden Vorschläge vor und ich möchte mich dem Thema tentativ nähern. Zukunftsweisend erscheint die enge Zusammenarbeit der Soziologie, der Politik- und der Geschichtswissenschaft und die Herausbildung einer „Global Historical Sociology“. Worin genau besteht die Schwierigkeit? Eine kurze Bestandsaufnahme, wie weit es mit der Globalen Mikrogeschichte gelingt, die Mikroebene, mit der Meso- und der Markoebene zu verbinden, verdeutlicht die noch ungelösten Fragen: Die Globale Mikrogeschichte kann analysieren, wie sich das Handeln von Akteuren in Praktiken übersetzt, die in Netzwerken oder anderen Communities of Practice wirksam werden. Sie kann auch zeigen, wie sich Praktiken in Verbindung mit anderen Praktiken zu Praxisformationen verfestigen, die eine beeindruckende Stabilität erzeugen. Handelsnetzwerke, professionelle Verbindungen, aber auch internationale Bewegungen wie die Frauenrechtsbewegung, Konsumgewohnheiten, Körperpraktiken – all dies kann nachvollzogen und auf seine globale Durchsetzungskraft hin befragt werden. Die historischen Vignetten haben zudem verdeutlicht, dass sich auch Gegenpraktiken, De-Globalisierungen, Entflechtungen mithilfe der Globalen Mikrogeschichte beschreiben lassen. Die Analyse startet dabei mit der Mikroebene, nimmt mit den Praxisformationen und den Communities of Practice die Mesoebene in den Blick und kommt insofern bei der globalen Ebene an, als sie nach der Herausbildung eines globalen Resonanz- oder Interaktionsraumes fragt. Das Globale als Resonanz- oder Interaktionsraum, darauf komme ich im folgenden Kapitel zu sprechen, wird mithilfe eines praxistheoretisch gewendeten Verständnisses der Weltgesellschaft denkbar. Ein Resonanzraum bezieht sich jedoch gerade nicht auf Strukturen, wie wir sie innerhalb von Gesellschaften beschreiben können. Der Begriff „Weltgesellschaft“ lädt zu Missverständnissen ein, weil er eine handfeste Strukturierung suggeriert. Giddens verwendet zwar den Begriff der Strukturierung und schreibt ihm globale Reichweite zu. Aber er kann nicht überzeugend darlegen, was genau damit auf globaler Ebene gemeint ist, weil es keine sozial ausdifferenzierte globale Gesellschaft gibt. Die Frage ist also: Wie werden die Communities of Practice oder Praxisformationen auf globaler Ebene strukturbildend wirksam?
Viel versprechend erscheinen mir Ansätze, die Überlegungen Pierre Bourdieus mit denen von Anthony Giddens zusammenführen. Mit der Idee des Habitus und dem Konzept des sozialen Feldes hat Bourdieu einen überzeugenden Vorschlag gemacht, wie das Individuelle und das Soziale in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit gedacht werden können. Der vom Akteur inkorporierte Habitus vermittelt zwischen Handlung (Individuum) und Struktur (Gesellschaft), ohne dass das Handeln im Determinismus aufgeht. Andererseits, und das macht die Anwendung auf Fragen der Globalisierung schwierig, bleibt Bourdieus Praxiskonzept eng an eine konkrete Gesellschaft mit klaren sozialen Feldern und einem ausgeprägten Habitus gebunden. Das Soziale wird nicht in seine Beziehungen zerlegt, wie etwa bei Latour. Die Welt von Bourdieu ist nicht „flach“. Das Soziale ist innerhalb einer konkreten Gesellschaft verortet. Will man globale Zusammenhänge untersuchen, hilft ein klassischer Gesellschaftsbegriff nicht weiter. In den letzten Jahren wurde sein Ansatz weiterentwickelt. Der Bourdieu’sche Habitus-Begriff und der Begriff des sozialen Feldes bieten gute Anknüpfungsmöglichkeiten für die soziologisch inspirierten Global Studies. Auf ihn geht aber auch maßgeblich der Practice Turn in dem Forschungsfeld der International Relations (IR) zurück.
Giddens geht das Spannungsverhältnis zwischen Akteur und Struktur aus einer anderen Richtung an als Bourdieu. Ihn interessiert vor allem die Makroebene. Soziale Systeme, so seine Vorstellung von Gesellschaft, entstehen in einer Reihe von „intergesellschaftlichen Systemen“. Sie sind daher nie als geschlossen zu verstehen, sondern nur über ihre Beziehungen zu denken. Giddens versteht soziale Systeme als von Praktiken ausgehend, denn diese strukturieren soziale Systeme. Praktiken sind demnach jene Instanzen, die zwischen der Mikroebene des Handelns und der Makroebene der sozialen Systeme vermitteln. Unbestimmt bleibt in diesem Zusammenhang, wie sich das globale soziale System von nationalstaatlichen beziehungsweise gesellschaftlichen sozialen Systemen unterscheidet. Ebenso vage bleibt, was ein derartiges soziales System auszeichnet, wie es bestimmt wird, wie es kommt und vergeht, wie viele soziale Systeme es gibt, wie sie sich zueinander verhalten usw.
Das Zusammenspiel der Mikroebene einzelner Akteure, der Mesoebene der Netzwerke und die Herausbildung eines globalen Feldes, innerhalb dessen globale Machtasymmetrien auf eine neue Grundlage gestellt und verfestigt wurden, lässt sich am Beispiel der Berliner Kongokonferenz 1884/5 verdeutlichen. Es zeigt einen von vielen Mosaiksteinen, die mitprägten, wie sich das weltpolitische System als eine spezifische Praxis der Governance im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem eigenständigen politischen Feld entwickelte und auf das Deutsche Kaiserreich auswirkte: Auf der Berliner Kongokonferenz 1884/5 wurde von 14 Signatarstaaten beschlossen, wie der sogenannte „Wettlauf um Afrika“ geregelt und das Sklavenhandelsverbot international durchgesetzt werden sollte. Erst das Interesse an Verflechtungsbeziehungen lässt erkennen, welche Akteure an dem Geschehen beteiligt waren. So handelte Bismarck unter anderem auf Druck von Vertretern deutscher Industrie- und Handelskammern. Kaufleute des deutschen Hinterlands hatten jahrhundertealte Geschäftsbeziehungen mit dem afrikanischen Kontinent und setzten nun ihre Interessen mithilfe eingeschliffener Praktiken durch – wie schriftliche Eingaben, Treffen und Vorgespräche mit dem Reichskanzler, Produktionseinschränkungen, Verteuerungen u.a.m. Dies war ihren Handelspartnern in afrikanischen Territorien nicht möglich. Zwar teilten sie bestimmte habitualisierte Verhaltensweisen der seit der Frühen Neuzeit entstehenden transkontinentalen Handelseliten, aber sie hatten Ende des 19. Jahrhunderts keinen Zugang zu den kolonialen europäischen Entscheidungsträgern. Die neueste Forschung zum europäisch-afrikanischen Handel der Zeit zeigt, wie Handelsbeziehungen soziale Strukturen in Europa und in unterschiedlichen afrikanischen Regionen veränderten. Sie zeigt zugleich, dass afrikanische Kaufleute mit Fernhandel zwar ihre regionale Macht ausdehnen konnten, aber nicht in das weltpolitische System Ende des 19. Jahrhunderts integriert waren. Ihre Machtausdehnung blieb lokal. Translokale und transnationale Handelsbeziehungen zwischen zahlreichen Akteuren und ihre je spezifischen regionalen Interessen trugen dazu bei, global wirksame politische Asymmetrien zu verfestigen.