Fußnote
Referenz
Angelika Epple
Globalisierung neu denken

Globalisierung/en neu denken

Die Globalgeschichte trat unter anderem mit dem Anliegen an, Fortschrittsgeschichten nach der Modernisierungstheorie eine Absage zu erteilen. Fortschrittsgeschichten diagnostizieren ein Ziel der Geschichte, worauf sie ihre Geschichtsdeutung ausrichten: mehr Wohlstand und Bildung, weniger soziale Ungleichheit, Emanzipierung, die Herausbildung moderner Demokratien. Wer die Geschichte der Globalisierung neu denken möchte, kommt in ein Dilemma: Einerseits benötigt jeder Prozessbegriff eine Richtung, sonst könnten die dargestellten unterschiedlichen Dynamiken nicht zu einem Kollektivsingular zusammengeführt werden. Andererseits sind gerichtete Fortschrittsgeschichten widerlegt. Wenn Geschichte kein Ziel hat, das sich aus ihr ableiten lässt, müssen wir dann Prozessbegriffe über Bord gehen lassen?

Jürgen Osterhammel steht in Deutschland wie kein anderer Historiker für die Globalgeschichte. Mit seinem mehr als 1.000-seitigen Buch Die Verwandlung der Welt setzte er bisher unerreichte Maßstäbe. In einem wichtigen Kapitel über die Aspekte einer globalen Sozialgeschichte – später weiterentwickelt zusammen mit Christof Dejung und David Motadel – erörtert er genau das hier angesprochene Dilemma, nämlich die Frage, wie Historiker*innen das Genre der Fortschrittsgeschichten vermeiden und dennoch Geschichte als eine Entwicklung mit einer Richtung verstehen können.  Auch wenn sich Osterhammel in besagtem Kapitel auf die Fortschrittsgeschichte von Nationalstaaten bezieht, so legt er den Finger doch in die Wunde. Einerseits geht er davon aus, dass gesellschaftliche Strukturen aus „dynamischen Praktiken und Operationen“ bestehen. Ohne dies praxistheoretisch zu begründen, setzt auch er auf Praktiken als Grundlage gesellschaftlicher Strukturen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene. Andererseits sind ihm Praktiken kein Bezugspunkt, wenn es um die globale Ebene geht. Interessanterweise verweist er dann auf ein anderes Konzept: auf den Luhmann’schen Begriff der „Weltgesellschaft“.  Ob das Konzept der „Weltgesellschaft“ zur Lösung des hier skizzierten theoretischen Problems beitragen kann, hängt stark davon ab, was wir unter einer Gesellschaft beziehungsweise unter einer Weltgesellschaft verstehen. Der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann skizzierte sein Konzept der Weltgesellschaft nur knapp. Dennoch lohnt es sich, einen genaueren Blick auf Luhmanns Idee zu werfen und diese mit anderen Konzepten der Weltgesellschaft zu kontrastieren, wie sie von John Meyer und anderen vorgeschlagen wurden.

Die Definition der „Weltgesellschaft“ findet sich in einem erstmals 1971 veröffentlichten Artikel von Niklas Luhmann. Dabei hebt er weder auf integrierte soziale Strukturen, Institutionen oder Hierarchien, noch auf Praktiken oder Abläufe ab, wie das andere Gesellschaftstheorien tun. Luhmann räumte nämlich hellsichtig ein, dass das globale System nicht in dem in der Gesellschaftstheorie üblichen Sinn als Gesellschaft definiert werden kann, die nämlich eine normative Integration voraussetzt. In diesem Sinne gibt es – auch Luhmann zufolge – keine Weltgesellschaft. Allerdings war er bereits 1971 davon überzeugt, niemand könne die Tatsache leugnen, „dass es ein umfassendes soziales System gibt, das hauptsächlich durch kognitive und adaptive Mechanismen integriert ist.“  Der Schlüssel zu Luhmanns Konzept der Weltgesellschaft ist, was er den Möglichkeitshorizont der gegenseitigen kognitiven Erwartungen nennt. Was kompliziert klingt, lässt sich einfach beschreiben. In der Weltgesellschaft muss man damit rechnen, dass andere Menschen am anderen Ende der Welt darauf reagieren, was man selbst getan oder kommuniziert hat. Demnach macht gerade nicht die Interaktionsdichte die Weltgesellschaft aus, sondern die theoretische Möglichkeit weltweiter Interaktionen, denn dies prägt die kognitiven Erwartungen und damit die Kommunikation selbst. Die Weltgesellschaft „umfasst also Interaktionsfelder, die durch kognitive Erwartungen gesteuert werden können, z. B. Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, öffentliche Kommunikation, internationale Verhandlungen“. Anders ausgedrückt: Weltgesellschaft entsteht nach Niklas Luhmann durch Kommunikation, die durch die gegenseitige Erwartung einer theoretisch möglichen globalen Interaktion und eines wachsenden Bewusstseins für die Welt als Ganzes geprägt ist.

Das Attraktive an Luhmanns Konzept ist, dass er kein unterschiedliches Verständnis von Gesellschaft oder sozialem System auf lokaler, regionaler, nationaler oder weltgesellschaftlicher Ebene benötigt. Eine Gesellschaft ist nach Luhmann die Summe aller Kommunikation, die für jedes Mitglied sinnvoll und zugänglich ist. Seit der Wende zum 19. Jahrhundert findet alle Kommunikation weltweit unter den Bedingungen der theoretisch möglichen Verfügbarkeit statt. Die theoretisch mögliche Verfügbarkeit verändert die Erwartungen an die Kommunikation. Auch wenn wir keine gesellschaftlichen Strukturen im traditionellen Sinne vorfinden, so gibt es doch eine Weltgesellschaft. In Erweiterung von Niklas Luhmann möchte ich hinzufügen: Diese Weltgesellschaft und deren Bewusstsein wird durch Praktiken (Luhmann spricht von Interaktion oder Kommunikation) hervorgebracht.

So überzeugend diese Argumentation auch sein mag, ist sie mit einer weiteren theoretischen Pointe verbunden, ohne die sie nicht haltbar ist. Luhmanns Theorie geht davon aus, dass es sich bei der modernen (Welt-)Gesellschaft um eine funktional differenzierte Gesellschaft handelt, in der verschiedene Teilsysteme wie Wirtschaft, Kultur, Sport, Politik, Kunst, Freundschaften und Religion ein hohes Maß an Autonomie gewonnen haben. Wie die neuere Forschung argumentiert, hat jedes Teilsystem die Tendenz, sich auf eine globale Ebene auszudehnen. Die Weltgesellschaftsforschung in der Nachfolge Luhmanns favorisiert daher das, was John Meyer einen ganzheitlichen Ansatz genannt hat.  Der ganzheitliche Ansatz sieht in der institutionellen Funktionsdifferenzierung den zentralen Motor für Globalisierungsprozesse.

John W. Meyer hat ein etwas anderes Verständnis der Weltgesellschaft. Sein theoretischer Hintergrund ist nicht die moderne Systemtheorie, sondern die neo-institutionelle Theorie. Meyer verweist ebenfalls auf das wachsende Bewusstsein für den Globus als Ganzes, bringt aber Akteure ins Spiel. Sein Akteursverständnis unterscheidet sich davon, was ich hier bisher vorgestellt habe. Meyer geht von Akteuren als autonomen, zielgerichtet handelnden Individuen aus. Deren Handeln wird durch Skripte, also vorgegebene Handlungsmuster, eingeschränkt und gestärkt.

Laut Meyer ist das Bewusstsein, dass es eine Welt gibt, in jeder Gesellschaft ausgeprägt. Auch in der Antike habe es ein Konzept des Kosmos, des Universums, der Welt gegeben. Überzeugend an Meyers Überlegungen ist, dass er Benedict Andersons Konzept der „imagined community“  von der Nation auf die Weltgemeinschaft überträgt. Die Imagination der Weltgemeinschaft analysiert er als eigenständige Ordnungsebene. In dieser Hinsicht deckt sich sein historischer Befund mit dem von Luhmann, denn auch Meyer argumentiert, dass diese globale Ordnung ihre Wurzeln in der frühen Neuzeit hatte, sich aber erst im späten 19. Jahrhundert durchsetzte. Es gibt aber auch einen interessanten Gegensatz zu Luhmanns Entwurf. Meyer ist der Meinung, dass die globale Ordnung Globalisierungsprozesse in Richtung einer zunehmenden Homogenisierung beeinflusse und gleichzeitig lokale Entkopplungseffekte provoziere. Daher kann er die Spannung heterogener lokaler Praktiken problemlos in seine Darstellung einer übergreifenden Weltkultur integrieren.

Die Entstehung einer eigenständigen globalen Ordnung und das wachsende globale Bewusstsein hängen demnach eng zusammen – eine Erkenntnis, die von Historiker*innen bestätigt wurde. 

Die in Bielefeld prominent betriebene Forschung zu der globalen Bedeutung von Praktiken des Vergleichens bestätigen den Befund von Niklas Luhmann, John W. Meyer und anderer Theoretiker der Weltgesellschaft: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sich Diskurse bzw. Praktiken heraus, die in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen globale Erwartungs- und Normenhorizonte festlegten und Standardisierungsprozesse anstießen.  Die erwähnten Reinheitsbestimmungen waren nur ein Beispiel unter vielen. Man denke nur an Praxisformationen, die zu globalen Standards (Zeit, Gewicht, Länge, aber auch Menschenrechte) führten, oder an Communities of Practice wie Journalisten, NGOs, Sozialwissenschaftler, Händler, Lobbyisten oder Fachleute. In Zeiten des Hochimperialismus waren es vor allem Fachleute, wie die erwähnten Lebensmittelchemiker aus dem globalen Norden, die Normen festlegten und Konzepte austauschten, die sich anschließend weltweit durchsetzten. Immer wieder bestätigt sich, wie zentral Praktiken des Beobachtens und Vergleichens als Triebkräfte der Globalisierung waren. 

Die bedeutende Rolle, die westliche, bürgerliche, männliche Experten bezüglich des Normierungsprozesses gespielt haben, verführt Meyer jedoch dazu, ihren Einfluss zu überschätzen. Noch deutlicher als Luhmann bringt Meyer seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Weltgesellschaft in den westlichen Gesellschaften entstanden sei und sich dann über die ganze Welt verbreitet habe. Der Eurozentrismus kommt hier durch die Hintertüre zum Tragen und zeigt, warum die Weltgesellschaft anders gedacht werden muss. Natürlich weist auch Meyer auf die Grenzen der „expansiven institutionalisierten Systeme“ hin. Heterogenität kommt als Entkopplungseffekt lokaler Praktiken ins Spiel. Entkopplung wird nicht nur zum Markenzeichen des Lokalen, sondern auch des Weltregionalen: des globalen Südens. Hier zeigt sich, dass einem solchen Verständnis von Weltgesellschaft eben doch der klassische Gesellschaftsbegriff nachhängt. Nach den Interventionen der postkolonialen Theorie und nach dem Ende der Fortschrittsgeschichten kann ein unilinear gedachter Prozess der Globalisierung nicht mehr überzeugen.

Stattdessen sollte die Weltgesellschaft in ihrer rein formalen, auf Erwartungsstrukturen setzenden Definition als Fluchtpunkt der Geschichte der Globalisierung/en gesetzt werden. Die Weltgesellschaft ist der Resonanzraum, in dem Praktiken auf Widerhall stoßen können. Dies gilt für den aus Cusco stammenden Gelehrten Inca Garcilaso (1539–1616), der Vergleichspraktiken spanischer Mönche widersprach, ebenso wie für die jüdische Diamantenhändlerin Glikl bas Judah Leib (1647–1724) aus Hamburg. Wenn wir die derartig definierte Weltgesellschaft als Fluchtpunkt von Globalisierungsprozessen setzen, lassen sich Wechselwirkungen zwischen weit entfernten Praktiken ebenso beschreiben, wie sich globale Divergenz oder Konvergenz ausmachen lässt. Das hier vorgeschlagene Verständnis der Weltgesellschaft ist eine Lösung für das Problem der ambivalenten Existenz und Nichtexistenz von Globalisierung/en und er ermöglicht Historiker*innen, Globalisierungsprozesse als einen gerichteten Prozess mit einem Fluchtpunkt darzustellen, ohne dessen Notwendigkeit zu behaupten (Teleologieverdacht), ohne Kontingenz zu leugnen und ohne Gegenbewegungen zu vernachlässigen.

Wenn Globalisierung im Singular den Prozess der Entstehung der Weltgesellschaft bezeichnet – also die Entstehung der Erwartungshaltung, dass weltweite Interaktionen theoretisch möglich sind – dann ist das eine sehr abstrakte Definition. Empirischen Gehalt erhält die Globalisierung erst durch die Beschreibung verschiedener konkreter Globalisierungsprozesse. Wer von einer funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaft ausgeht, kann auf eine theoretische Erklärung für die Analyse unterschiedlicher Globalisierungstendenzen innerhalb gesellschaftlicher Felder zurückgreifen. Globalisierung wird dann als plurales Phänomen sichtbar. Für die Globale Mikrogeschichte liegt ein anderer Ansatz näher: Anhand sozialer Praktiken in unterschiedlichen Kontexten und ihrer Auswirkungen auf die lokal-globalen Beziehungen können wir die sozialen Praktiken zu identifizieren, die globale Felder geschaffen haben. Die Geschichte der Globalisierung/en wird dann zu einer Geschichte sozialer Praktiken, die durch das Handeln und Sprechen von Akteuren in lokalen Kontexten bestimmt und von einer Weltgesellschaft geformt werden, deren Entstehung von eben diesen Praktiken abhängt. Ausgehend von den Praktiken können wir die historischen Bedingungen der Wissensproduktion innerhalb offensichtlicher oder versteckter Machtverhältnisse entschlüsseln.