Erkenntnisinteresse: Globalisierung erforschbar machen
The danger of a single story
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine (2022) und dem Krieg im Nahen Osten (2023) lesen wir im Feuilleton anspruchsvoller Tages- und Wochenzeitungen von dem Diktum der „Zeitenwende“ oder vom Ende einer Epoche: Die Kriege markierten demnach eine Umkehr weg von weltweiter wirtschaftlicher Verflechtung und erteilten dem damit verbundenen Versprechen auf eine friedlichere, zunehmend integrierte Welt eine Absage. Im Einklang mit dem so ausgerufenen Ende der Globalisierung stehen der Wirtschaftsprotektionismus des 2024 wiedergewählten U.S.-amerikanischen Präsidenten Donald Trump und dessen Handlungsdevise: „America first“. An die Stelle der Globalisierung trete eine Renationalisierung, die auf Grenzen und Differenzen setze, so die Diagnose. Doch ist die Globalisierung tatsächlich an ihr Ende gekommen?
Aus mehreren Gründen führt diese knapp skizzierte Interpretation der aktuellen Weltlage in die Irre. Der Krieg markiert einen verstörenden Einschnitt auf vielen Ebenen, die Wahl in den USA stellt die liberale Demokratie auf die Probe – die daraus gezogenen Rückschlüsse auf den Prozess der Globalisierung sind jedoch zu kurz gegriffen. Weder ist Globalisierung auf wirtschaftliche Verflechtung oder weltweite Integration zu reduzieren, noch stehen Entwicklungen wie zum Beispiel die Renationalisierung oder die Gefährdung der liberalen Demokratie dazu in einem Gegensatz.
Dieses weit verbreitete Missverständnis prägte auch lange Zeit die Geschichtsschreibung. Geschichtsbücher zur Globalisierung basieren häufig nicht auf eigener Forschung der Autor*innen, sondern auf sogenannten Sekundärquellen. Historiker*innen greifen dabei auf Studien zurück, die Einzelaspekte untersuchen, wie zum Beispiel wirtschaftliche Effizienzsteigerungen. Diese weisen in eine (einzige) Richtung und bergen die Gefahr einer „single story“. Konkurrierende Dynamiken, unterschiedliche Perspektiven und das oft widersprüchliche Handeln von Akteuren werden ausgeblendet.
Globalisierung, so argumentiere ich im Folgenden, muss daher anders erforscht und neu gedacht werden. Dafür bedarf es einer Methode, die Globalgeschichte und die Geschichte der Globalisierung an das Studium der Quellen, das Handeln historischer Akteure und deren überwältigende Heterogenität zurückbindet. Nur dann kann die besondere Expertise von Historiker*innen auch in die Analyse und Deutung aktueller Entwicklungen durch Journalist*innen, Politiker*innen oder andere Zeitgenoss*innen eingehen.
„Globalisierung“ verwende ich als Oberbegriff für ein komplexes Zusammenspiel oft widersprüchlicher und kontingenter globaler Prozesse der weltweiten Konvergenz und Divergenz. Diese Prozesse stellen sich unter unterschiedlicher Perspektive unterschiedlich dar, sind also abhängig von der „Positionalität“ all jener, die diese Prozesse beschreiben und interpretieren. Multiperspektivität ist daher eine Voraussetzung, um sich des Prozesses als Ganzem annehmen zu können. Das vielschichtige Wechselverhältnis dieser globalen Prozesse ist historisch äußerst variabel, das Ergebnis kontingent. Dennoch lässt sich – trotz aller Heterogenität globaler Dynamiken – ein übergeordneter Prozess der Globalisierung im Singular beschreiben.
Notwendig ist also eine Geschichtsschreibung, die an dem übergeordneten Prozess der Globalisierung festhält, zugleich aber widersprüchliche, multiple und kontingente globale Prozesse sichtbar macht. Um diese Geschichte der Globalisierung auf eine theoretische und empirische Grundlage zu stellen, benötigen wir eine geeignete Methode, um sowohl die verwirrende Widersprüchlichkeit des Handelns von Akteuren als auch die Verfestigung von Handlungsweisen zu Praktiken und die Hervorbringung globaler Dynamiken und Strukturen sichtbar zu machen. Auf den folgenden Seiten führe ich meine Überlegungen zu einer globalgeschichtlichen Methode aus, mit der sich zeigen lässt, wie Akteure durch sozial geteilte Praktiken widersprüchliche Dynamiken provozieren, wie sie so den Prozess der Globalisierung vorantreiben und Strukturen schaffen, die ihr Handeln sowohl ermöglichen als auch begrenzen. Diese Methode bezeichnet ich als Globale Mikrogeschichte. Der Begriff entstand gleichzeitig in unterschiedlichen Forschungskontexten. Am breitesten wurde er bisher von Expert*innen für die Frühe Neuzeit diskutiert. Das ist kein Zufall, sondern liegt an der historischen Tradition der italienischen Microstoria der 1970er Jahre. Deren bis heute bekanntesten theoretischen Köpfe waren Carlo Ginzburg und Natalie Zemon Davis. Beide erforschten die Frühe Neuzeit. Obwohl die Mikrogeschichte von Anfang an den Anspruch hatte, übergeordnete, gerade nicht im Kleinen verhaftete Prozesse zu analysieren, hat dieser Ansatz zunächst wenig Eingang in die Globalgeschichte gefunden, und falls doch, so nicht im Sinne der Microstoria. Zwar verwenden Globalhistoriker von Eric Hobsbawm über William McNeil zu Christopher Bayly und Jürgen Osterhammel immer wieder paradigmatische Einzelfälle, mit denen sie den übergeordneten Prozess der Globalisierung bildlich fassbar machen wollen. Gerne wird z. B. das historische Vorbild (Georg Francis Train) des Protagonisten (Phileas Fogg) im Roman von Jules Verne „In 80-Tagen um die Welt“ (1873) als Beleg angegeben, wie eng die Welt um 1870 infrastrukturell zusammengewachsen war. Tatsächlich war eine Weltreise in so kurzer Zeit erst nach der Eröffnung des Panamakanals (1869) denkbar geworden. Dem Einzelfall wird dabei jedoch keine tragende Rolle zugeschrieben. Er bleibt Illustration. Dies ist gerade kein mikrogeschichtliches Vorgehen. Ähnliches gilt auch für soziologische Globalisierungstheorien oder die Weltgesellschaftstheorie. Kurz: Trotz der konzeptionellen Überlegungen der ersten Generation sowohl der Mikrogeschichte als auch der Globalgeschichte, trotz der zahlreichen soziologischen Theorien der Globalisierung oder der Weltgesellschaft fehlt bis heute ein überzeugender Vorschlag, wie der Übergang von einer Analyse historischer Akteure zur übergeordneten Ebene globaler Prozesse konzeptionell erfasst werden kann.
In den folgenden vier Kapiteln führe ich meinen Vorschlag aus, wie die Konzeptualisierung der Globalen Mikrogeschichte zu einem neuen Verständnis der Globalisierung führt und es zugleich ermöglicht, Globalgeschichte empirisch fundiert zu erforschen.
Meine Überlegungen beginnen mit einer begrifflichen Annäherung, was unter Globalgeschichte, Geschichte der Globalisierung und Mikrogeschichte verstanden wird (1.1.). Dann geht es um die Frage, wie es gelingen kann, unterschiedliche Sichtweisen und die damit einhergehende Relativierung des je eigenen Standpunkts („Positionalität“) zu Wort kommen zu lassen und zugleich am Wahrheitsanspruch der Wissenschaft festzuhalten (1.2).
Das zweite Kapitel thematisiert den Gegenstand der Globalgeschichte. Weil Globalgeschichte und die Geschichte der Globalisierung nicht ein und dasselbe sind, unterteile ich die Bestimmung des Gegenstands in zwei Schritte. Zuerst wird diskutiert, was unter dem Oberbegriff „Globalgeschichte“ untersucht wird und werden sollte. Die Globalgeschichten der letzten Jahre zeigen, dass sie bisher weniger über ihren Gegenstand definiert wird als vielmehr über eine bestimmte Fragerichtung. Dadurch bleibt der Gegenstand jedoch unterbestimmt. Daraus ergeben sich geschichtstheoretische Probleme, da sich Erkenntnisinteresse und Gegenstand gegenseitig bedingen. Das „Globale“ läuft in der bisherigen Globalgeschichte Gefahr, zu verschwimmen und nicht fasslich zu sein. Mit dem Verschwimmen der Konturen des Gegenstandes wird auch das Erkenntnisinteresse verwässert (2.1.). Was würde eine klarere Gegenstandsbestimmung bedeuten?
Wandel zu erklären, ist zwar das Kerngeschäft der Historiker*innen, doch sind dessen Grundlagen fraglich geworden. Lässt sich aus der Globalgeschichte ein Prozess ableiten oder zerfällt die Globalgeschichte nicht vielmehr in unzählige einzelne Dynamiken, die gerade keine gemeinsame längerfristige Entwicklung ergeben? Ist das Zeitalter der allgemeinen Geschichte im Singular zu einem Ende gekommen? Löst sich die Geschichte in unendliche Geschichten auf? Es ist daher zu erörtern, inwiefern es überhaupt einen Prozess gibt, den wir zutreffend als Globalisierung bezeichnen können (2.2.).
Im dritten Kapitel entwickle ich mit der Globalen Mikrogeschichte ein Konzept, um diese Fragen überzeugend beantworten zu können. Dabei werden die Gedanken zur Positionalität aufgegriffen und praxistheoretisch gewendet. Es wird gezeigt, wie die Genese des Erkenntnisinteresses den zu untersuchenden Gegenstand bestimmt. Ziel ist ebenso, „Zentrismen“ zu reflektieren, wie andere Vorannahmen explizit zu machen. Die Globalgeschichte kann hier viel von der Geschlechtergeschichte und der relationalen Geschichtsschreibung lernen. Weil das Erkenntnisinteresse der Historiker*innen von ihrer jeweiligen Positionalität geprägt ist, sollten sie ihre impliziten Vorannahmen möglichst explizit machen und auf Multiperspektivität setzen. Hermeneutische Grenzen lassen sich zwar nicht überwinden, sie sollten aber – so klar wie eben möglich – zur Diskussion gestellt werden (3.1.).
Im Anschluss wird der Gegenstand einer neu gedachten Globalgeschichte näher bestimmt. Die praxistheoretisch fundierte Methode der Globalen Mikrogeschichte stellt eine konzeptionelle Lösung der zuvor aufgeworfenen theoretischen Herausforderungen zur Diskussion. Der Übergang von der Mikroebene des Handelns einzelner Akteure hin zur Makroebene globaler Strukturen und Dynamiken wird durch Praktiken, Praxisformationen, Communities of Practice vermittelt. So lässt sich der „micro-macro-divide“ schließen (3.2.). Mithilfe der Methode der Globalen Mikrogeschichte können die Globalgeschichte und die Geschichte der Globalisierung von der Bachelorarbeit bis zum Opus magnum erforscht und auf ein neues Fundament gestellt werden. Darauf basierend analysiert die Globalgeschichte die Praktiken, in die das Handeln der Akteure verwoben ist, und die zugleich globale Strukturen hervorbringen. Handlungen werden durch Praktiken und Praktiken wiederum durch die sie hervorbringenden globalen Strukturen zugleich ermöglicht und begrenzt.
Das vierte Kapitel leitet aus den Überlegungen zur Globalen Mikrogeschichte einen neuen Zuschnitt des Gegenstandes ab. Wenn Globalgeschichte in der Analyse der Praktiken, der globalen Strukturen und deren gegenseitiger Hervorbringung besteht, hat sie ein anderes Erkenntnisinteresse als die bisherigen Globalgeschichten. Nicht mehr nur die Frage nach den transnationalen Verflechtungen leitet dann die Analyse, sondern auch die Frage nach den Bedingungen, unter denen globale Beziehungen entstehen. Ein derartiges Erkenntnisinteresse setzt allerdings die Existenz „des Globalen“ voraus, ohne das es keine bestimmbaren globalen Beziehungen geben kann. Wie aber stellt sich „das Globale“ dar, wenn es strikt praxeologisch gedacht wird? Kapitel 4 macht hier mit Bezug auf Niklas Luhmanns Begriff der „Weltgesellschaft“ den Vorschlag, das Globale als Interaktionsraum zu verstehen, innerhalb dessen handelnde Akteure theoretisch erwarten können, dass die von ihnen vollzogenen Praktiken auf Resonanz stoßen. Die Frage, ob sie tatsächlich Resonanz provozieren, wird in Globalen Mikrogeschichten beantwortet.
Daraus lässt sich das Ergebnis ableiten, auf das diese Monografie abzielt: Wenn der Gegenstand der Globalgeschichte anders definiert wird, dann können wir Globalisierung neu denken. Sie erscheint in einem neuen Licht, wenn Studien mithilfe der Globalen Mikrogeschichte untersuchen, wie Akteure historischen Wandel vorantreiben, wie ihr Handeln mit Praktiken verwoben ist, und wie diese Praktiken Strukturen hervorbringen und verfestigen, die das Handeln der Akteure zugleich ermöglichen und begrenzen. Weil sich Praktiken gegenseitig überlagern, widersprechen, entkräften oder verstärken können, ist Globalisierung ein vielschichtiger, widersprüchlicher Prozess, der sowohl Dynamiken der Konvergenz als auch der Divergenz umfasst. Der Begriff verbindet daher die Einheit eines Prozesses mit der Vielfalt seiner Erscheinungsformen im Plural: Globalisierung/en.
Wenn diese Monografie sowohl Expert*innen der Geschichte der Globalisierung als auch Studierende mit einem Interesse an globalen Zusammenhängen lokaler Geschehnisse zur kritischen Weiterentwicklung anregt, hat sie ihr Ziel erreicht.
#Globalisierung, Globalgeschichte, Geschichte des Anthropozän
Warum ist der Begriff der Globalisierung so umstritten? Wie verhält er sich zu dem Begriff Globalgeschichte? Wie unterscheiden sich beide von dem – in den letzten zehn Jahren immer häufiger verwendeten – Begriff des Anthropozän? Wenn das Anthropozän die Epoche bezeichnet, in der die Geschicke der physischen Welt maßgeblich von Menschen beeinflusst werden , ersetzt der Begriff dann die Globalgeschichte und die Geschichte der Globalisierung? Oder wäre es sinnvoll, wie Dipesh Charabarty (2022) vorgeschlagen hat, statt von Globalisierung oder dem Anthropozän von der planetarischen Geschichte zu sprechen?
Der Begriff Globalisierung wird seit seiner Prägung in den 1970er Jahren in einem Forschungsfeld unterschiedlicher Disziplinen verwendet: in der (historischen) Soziologie, der Geschichts-, Politik-, Wirtschafts-, Kultur- und den Literaturwissenschaften. Seine Bedeutung ist dabei schillernd. Von einigen wird die Globalisierung als unumkehrbarer Prozess der zunehmenden wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtung beschrieben. Während bezüglich ihrer Unumkehrbarkeit Einigkeit herrscht, ist in dieser Gruppe allerdings umstritten, wann der Beginn der Globalisierung anzusetzen ist. Ist sie ein junges Phänomen des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnt sie mit der Ölkrise oder dem Internet? Reicht ihre Geschichte weiter zurück und setzte der Imperialismus des 19. Jahrhunderts, der europäische Kolonialismus der Frühen Neuzeit den Anfang? Oder beginnt die Globalisierung gar in der Antike, als die Geschichtsschreiber die Vernetzung der ihnen bekannten Welt beschrieben? Je nach Datierung verbirgt sich hinter dem Begriff eine andere historische Interpretation. Wer den Beginn der Globalisierung mit dem Aufkommen des Internets sieht, versteht darunter etwas anderes als derjenige, der von der Globalisierung als Erbe des Kolonialismus der Frühen Neuzeit ausgeht.
Andere lehnen den Begriff Globalisierung vehement ab. Kritiker*innen unterschiedlicher Couleur vereinen sich in der Auffassung, dass ein so abstrakter Begriff wie Globalisierung nur auf anonyme Strukturen abheben könne, deren Existenz in der realen Welt nur behauptet würden. Die vermeintlichen Strukturen hätten mit den eigentlichen Akteuren der Geschichte, den Menschen, nichts zu tun und besäßen keinen historischen Erkenntniswert. An den postkolonialen Studien Geschulte fügen hinzu, der Begriff sei zutiefst eurozentrisch und konserviere die koloniale Vorstellung, die Welt verwandele sich nach und nach dem Westen an.
Einig sind sich die meisten Historiker*innen, dass die Geschichte der Welt tatsächlich nicht mit der Geschichte der Globalisierung gleichzusetzen ist. Sie unterscheiden Globalgeschichte und die Geschichte der Globalisierung begrifflich. Globalisierung bezeichnet einen gerichteten historischen Prozess, der sich durch inhaltlich bestimmte Entwicklungen genauer beschreiben lässt. Wer von Globalisierung spricht, bezieht sich also auf einen historischen Befund. Dieser ist die immer vorläufige Antwort auf die Frage, wie sich die weltweiten Beziehungen entwickelt haben und zueinander verhalten. Und weil dieser Befund falsifiziert werden kann, ist er stark umstritten. So ist beispielsweise die Auffassung, Globalisierung führe zu einer umfassenden Integration der Welt, empirisch widerlegt, vielmehr kennzeichnen die „Bruchlinien der Globalisierung“ die gegenwärtige Welt. Das Schreckgespenst einer „McDonaldization“ , in der sich die Welt wirtschaftlich, aber auch politisch und kulturell vereinheitliche, hat sich überlebt.
Der Vorschlag des vorliegenden Bandes ist es, Globalisierung stattdessen als einen vielschichtigen und kontingenten Prozess der Konvergenz bei gleichzeitig verfeinerter oder auch wachsender Divergenz zu verstehen. Einerseits nimmt die wirtschaftliche, kulturelle, soziale Verflechtung der Welt seit vielen Jahrhunderten zu. Wenn die Ukraine kein Getreide exportieren kann, verschärft dies die Hungerkrise in vielen afrikanischen Ländern. Diese Verflechtung wird in der Krise als Abhängigkeit schmerzlich bewusst. Social Media, die Musik- und Filmindustrie oder Moden und Ernährungsgewohnheiten liefern tagtäglich Beispiele eines weltweiten kulturellen Austausches. Die zunehmende Verflechtung ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, denn gleichzeitig gibt es Gegenentwicklungen, Widerstände, Entflechtungen und zunehmende oder verfeinerte Differenzen. Die Wiederkehr der Geopolitik , der Krieg in der Ukraine, das Erstarken rechter und rechtsextremer Positionen in Deutschland und vielen anderen Ländern geht mit dem Erstarken des Nationalismus als trennendem Element einher. Globalisierung ist besser zu verstehen als ein ungleichzeitiger Prozess voller Widersprüche, als eine Ansammlung sich überlagernder unterschiedlicher Praktiken, die hegemonial werden oder wieder verschwinden, ein Prozess, der ganz anders hätte verlaufen können und dessen Zukunft nur unter Einbezug von Wahrscheinlichkeiten vorherzusagen ist. Es ist daher sinnvoll, den Begriff im Plural zu verwenden und von Globalisierung/en zu sprechen. Der Plural bleibt jedoch sprachlich und logisch an den Singular gebunden. Wer Globalisierung immer auch im Plural denkt, stellt die historische Erforschung des Problems vor große Herausforderungen: Wenn der Prozess kein notwendiger ist, wenn er aus Widersprüchen besteht und häufig kontingent ist, dann stellt sich die Frage, wer diesen ambigen, widersprüchlichen Prozess vorantreibt. Oder anders ausgedrückt: Wie lassen sich Vielfalt und Einheit theoretisch begründen und methodisch erforschen?
Globalgeschichte ist kein historischer Befund, sondern eine bestimmte Art der Fragestellung an die Geschichte. Sie wird derzeit nicht als Methode im engeren Sinne verstanden, sondern als eine Perspektivierung, eine Herangehensweise an historische Zusammenhänge. In den meisten deutschsprachigen Einführungen wird Globalgeschichte als Fragerichtung beschrieben, mithin als Perspektive, die Historiker*innen gegenüber dem untersuchten Gegenstand einnehmen Englischsprachige Einführungen, wenn sie keine überarbeiteten Übersetzungen sind, halten sich meist weniger mit Begriffserklärungen auf und behandeln eher einzelne thematische Aspekte. In diese Kategorie fallen die meisten großen Globalgeschichten der letzten Jahre, wie sie von Jürgen Osterhammel, Christopher Bayly oder John Darwin vorgelegt wurden.
Die Globalgeschichte grenzt sich über das Erkenntnisinteresse von der Welt- oder Universalgeschichte ab , wie sie bereits in der Antike betrieben, in der europäischen Aufklärung mit neuem Leben gefüllt wurde und auch heute noch von manchen Kollegen – Kolleginnen sind mir keine bekannt – verfasst wird. Diese älteren Formen der Historiographie hatten (und haben) den Anspruch, die ganze Welt in den Blick zu nehmen. Sie definierten sich also nicht über die Fragestellung bzw. das Erkenntnisinteresse, sondern über den Gegenstand. Unbenommen davon hatten aus Europa stammende Historiker spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts das Interesse, den zivilisatorischen Fortschritt in der Welt aufzuzeigen und gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Nationalstaatsbildung als Fluchtpunkt der Geschichte auszuweisen.
Die direkte Zugänglichkeit zu einem geographisch/räumlich bestimmten Gegenstand in der Geschichte („die Welt“ oder „die Nation“) wurde jedoch spätestens fraglich, als der Linguistic und in Folge der Spatial Turn im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in der Geschichtswissenschaft rezipiert wurde. Seitdem werden auch geographische Einheiten über die Beziehung zu anderen Einheiten verstanden.
Diese Form der ‚relationalen‘ Geschichtsschreibung wurde in der Geschlechtergeschichte mit der Einführung der nur relational zu verstehenden Kategorie „Gender“ vorgedacht. Leider wurde diese Pionierrolle der Geschlechtergeschichte in der Globalgeschichte nicht gewürdigt. Die Rolle von Männlichkeiten, die Beziehung zwischen verschiedenen Geschlechtern, die Vielschichtigkeit von Weiblichkeiten – all dies blieb bis auf wenige Ausnahmen ein Blind Spot der Globalgeschichte. In Einzelstudien, insbesondere von Historikerinnen, wurden beeindruckende geschlechtergeschichtliche Erkenntnisse herausgearbeitet. Es ist erstaunlich, wie marginal diese Ergebnisse bisher in synthetisierenden Globalgeschichten behandelt werden. Geschlechtergeschichte sollte in jeder anspruchsvollen Globalgeschichte schon deshalb ein zentraler Bezugspunkt sein, weil auch die Globalgeschichte in Frage stellt, dass Untersuchungseinheiten essentialistisch bestimmt werden könnten. Genau diese Skepsis gegenüber einer essentialistischen Bestimmung von Geschlechtern war der Ausgangspunkt der Geschlechtergeschichte schon einige Jahrzehnte zuvor. Trotz dieses gemeinsamen theoretischen Fundaments werden in den meisten Globalgeschichten Männer und Frauen stereotyp, unhistorisch, über das biologische Geschlecht und gerade nicht als über die Beziehung zu anderen, also als ‚relational‘ bestimmte Akteure betrachtet. Tertia non datur. So geraten fast ausschließlich Netzwerke männlicher Akteure in den Blick – meist ohne dies zu reflektieren. Das dennoch beeindruckende Buch von Christopher Bayly über die „Geburt der modernen Welt“ geht sogar so weit, die im 19. Jahrhundert in einer bürgerlichen Schicht in Westeuropa und Nordamerika entstehende Geschlechterdichotomie auf weltweite Beziehungsverhältnisse von Männern und Frauen zu übertragen. Erst mit dem Aufschwung der transnationalen Verflechtungsgeschichte, der intersektionalen und der queeren Geschichte wurde Gender wieder zu einer wichtigen Kategorie , häufig jedoch auf Kosten der globalgeschichtlichen Fragestellung.
Jenseits geschlechtergeschichtlicher Fragestellungen wendet sich die Globalgeschichte prima facie gegen ein Denken in festgefügten Einheiten, wie geographisch definierte „Containerbegriffe“, sei es die ganze Welt, die Nation oder eine Dorfgemeinschaft (vgl. Kapitel 2.1.). Die Globalgeschichte definierte ihr Anliegen nicht über den Gegenstand, sondern über das Erkenntnisinteresse und die Frage nach Verflechtungsbeziehungen. Der Globalgeschichte geht es im Gegensatz zu einer Weltgeschichte oder einer national bestimmten Gesellschaftsgeschichte darum, ein bestimmtes Ereignis, einen historischen Zusammenhang oder eine Entwicklung globalgeschichtlich zu perspektivieren. Sie fragt nach den globalen Beziehungen, die in Wechselwirkung zu dem jeweiligen Ereignis, dem Zusammenhang, der Entwicklung stehen. So überschreitet sie (nationale) Grenzen und überführt die Weltgeschichte in eine „transnationale Verflechtungsgeschichte“.
Die so definierte Globalgeschichte reflektiert zwar auf das Erkenntnisinteresse, bleibt dabei aber vage in der Bestimmung, was das Globale der transnationalen Verflechtungsbeziehungen ausmacht. Mit der Frage nach transnationalen Verflechtungen ist der Gegenstand der Globalgeschichte nicht hinreichend bestimmt. Es bleibt offen, wer oder was in den Blick genommen werden soll: Nationen, Staaten, Einzelpersonen, soziale Gruppen – alles ist denkbar.
Die Methodik bleibt in der Globalgeschichte oft ebenso unterbestimmt. Das ist insofern verständlich, als eine Sozialgeschichte des globalen Bürgertums eine andere Methodik erfordert als Studien zu Einzelpersonen, wie beispielsweise dem antikolonialen Freiheitskämpfer José Rizal von Benedict Anderson oder der jüdischen Kauffrau Glikl bas Judah Leib von Natalie Zemon Davis oder zur Geschichte der Weltregion Süd-Ostasien. Das Fehlen einer gemeinsamen Methode stellt in Frage, ob es überhaupt ein gemeinsames Fundament der Globalgeschichte gibt. Definiert man die Globalgeschichte nur als eine Fragerichtung, ist das nicht nötig. Der Qualität dieser Studien tut dies auch keinen Abbruch – ganz im Gegenteil. Die hier genannten gehören aus unterschiedlichen Gründen zu den besten Studien der letzten Jahre. Mein Punkt ist ein anderer: Das Versäumnis, die Trias globalgeschichtliches Erkenntnisinteresse, globalgeschichtliche Methode, globalgeschichtlicher Gegenstand ausführlich zu reflektieren, verschenkt globalgeschichtliches Erkenntnispotential. Globalgeschichte braucht eine Bestimmung ihrer Grundlagen.
Bei der Suche nach einer neuen Grundlagenbestimmung der Globalgeschichte hilft vielleicht ein Rückblick auf die Tradition, aus der die Globalgeschichte kommt. Welt- und Universalgeschichte in der Epoche der europäischen Aufklärung und des Historismus definierte sich überwiegend über den Gegenstand, um sich von Geschichten geringerer Reichweite abzugrenzen. Sie versuchte Erkenntnisse zu synthetisieren, verwendete kaum Quellen und bedurfte keiner eigentlich historischen Methode. Die Standortgebundenheit ihrer Autor*innen wurde nicht nur nicht thematisiert, sie wurde in historistischer Tradition oft verdeckt, um die Weltgeschichte als objektive Widergabe der Vergangenheit auszuweisen. Leopold von Ranke brachte die Sehnsucht zum Ausdruck, sein eigenes Selbst am liebsten zum Verschwinden zu bringen. Freilich drückte sich darin kein vorkritischer Objektivismus aus. Vielmehr zeigt sich darin sein Bewusstsein der Schwierigkeit, den Gegenstand seiner Geschichtsschreibung ohne subjektive Einfärbungen darzustellen. In seiner Weltgeschichte verschwindet diese Problematik jedoch vollkommen hinter der auktorialen Erzählfigur. Quellenstudium floss in die beiden Bände seiner Weltgeschichte nicht ein.
Nicht nur der Blick zurück, sondern auch der Blick auf eine aktuelle historiographische Entwicklung ist aufschlussreich. Ebenfalls über den Gegenstand definiert sich die Geschichte des Anthropozäns. Je nach Definition kann die Geschichte des Anthropozäns als Klimageschichte oder als Globalgeschichte verstanden werden. Der Begriff wurde jedoch nicht etwa von einem Anthropologen oder Historiker vorgeschlagen, sondern von dem niederländischen Atmosphärenchemiker Paul Crutzen und dem US-amerikanischen Biologen Eugene Stoermer. Sie bezeichneten damit ein neues geologisches Zeitalter, in dem die Menschen durch ihre schiere Anzahl, ihre Handlungsweisen und ihre kollektiven Emissionen zu einer den Planeten verändernden Kraft werden.
Interessant ist die Beobachtung von Dipesh Chakrabarty, dass die Globalgeschichte genau zu dem Zeitpunkt ihren Aufschwung nahm, als sich das Bewusstsein eines globalen, vom Menschen bedingten Klimawandels durchgesetzt hatte. Globalgeschichte, so argumentiert er mehr als zehn Jahre später, sollte von der planetarischen Geschichte unterschieden werden. Die planetarische Geschichte erweitert die Globalgeschichte um eine weitere Dimension und ist auch umfassender als das von Crutzen und Stoermer entwickelte Verständnis des Anthropozäns. Während es in der Geschichte des Globalen um die menschliche Erfahrung gehe und – so könnte man ergänzen – im Anthropozän um die Effekte menschlichen Handelns, beinhalte die planetarische Geschichte zusätzlich auch die Geschichte des Nicht-lebendigen seit dem „Big Bang“. Chakrabarty möchte damit eine Unterscheidung einführen, um Menschen einerseits als Akteure in der Geschichte des Planeten zu zeigen, andererseits die Geschichte des Menschen zu dezentrieren und das (nicht-intentionale) Wirken anderer Akteure in der Geschichte des Planeten zu analysieren. Chakrabarty unterschätzt m. E. jedoch ein daraus entstehendes geschichtstheoretisches Dilemma: Wenn die Geschichtsschreibung über die Perspektive definiert wird und die planetarische Geschichte gerade nicht vom Menschen ausgehen soll, wessen Perspektive nimmt dann derjenige oder diejenige ein, die sie erzählt? Nimmt man die Auffassung ernst, dass Globalgeschichte eine Perspektive auf die Vergangenheit ist, dann wäre die planetarische Geschichte tatsächlich etwas anderes. Es ließe sich fragen, ob sie überhaupt in die Gattung Geschichtsschreibung gehört. Die Geschichte des Anthropozäns dagegen lässt sich als Globalgeschichte einordnen. Sie ist, wenn sie auf das Wirken der menschlichen Akteure abhebt, eine Subdisziplin. Sie beschäftigt sich mit der Wechselwirkung menschlicher Aktivitäten und der umfassenden Klimageschichte unseres (also des von Menschen besiedelten) Planeten.
Weniger weiterführend als die Überlegungen zum Anthropozän oder der planetarischen Geschichte ist dagegen die in den letzten Jahren vor allem in populärwissenschaftlichen Büchern progagierte Big History. Sie zeichnet sich ausschließlich durch einen sehr langen Untersuchungszeitraum aus, der oft vor Beginn der Menschheitsgeschichte ansetzt. Fragestellung, Gegenstand und Methode bleiben in einem derartigen Unterfangen gleichermaßen unterbestimmt.
Pointiert und im Wissen, dass es immer Ausnahmen gibt, lässt sich folgender Befund formulieren: In den drei hier diskutierten Bereichen, in der Globalgeschichte und in noch stärkerem Ausmaß in der (aufklärerischen/historistischen) Welt- oder Universalgeschichte sowie in der sich formierenden Geschichtsschreibung zum Anthropozän – kommt bisher der Gedanke zu kurz, dass sich Erkenntnisinteresse, Gegenstand und Methodik wechselseitig bedingen. Die Reflexion auf deren Wechselverhältnis zeigt, wie ein bestimmtes Erkenntnisinteresse von einer bestimmten historischen Position bestimmt ist und wie sie nach einer bestimmten Methodik verlangt, um den Gegenstand auf eine bestimmte Art zuzuschneiden.
Die hier zur Diskussion gestellten Überlegungen, wie eine Geschichte der Globalisierung neu konzeptualisiert werden kann, gehen auf unterschiedliche Aufsätze der letzten Jahre und meine Studie zur kolonialen Geschichte des Industrieprodukts Schokolade und des Kölner Unternehmens Gebr. Stollwerck zurück. Die als „Mikrogeschichte der Globalisierung“ angelegte Monografie zu den Gebr. Stollwerck analysierte sowohl einzelne Akteure als auch Akteursgruppen aus unterschiedlichen Weltregionen und verband diese mit einer History of Commodity des Kakaos, einer Ernährungsgeschichte des Fast Food und einer Technikgeschichte der Automaten. Die Widersprüchlichkeit von Entwicklungen, die Ein- und Ausschlussmechanismen von Netzwerken und die Produktion globaler wie lokaler Asymmetrien wurden dabei deutlich. Viele der hier vorgestellten Gedanken und Fallbeispiele gehen auf diese Studie zurück. Dennoch blieb damals eine konzeptionelle Frage offen: Wie lässt sich der empirische Befund, dass Globalisierung Konvergenz und Divergenz vereint, theoretisch begründen? Wie fügen sich die vielfältigen, in sich widersprüchlichen globalen Dynamiken zu einem Prozess, der als ein Prozess erkennbar ist? Wie gelingt es der Globalen Mikrogeschichte, nicht nur bei einer Mesoebene der Gruppen, Netzwerke und Diskurse anzukommen, sondern auch das „Globale“ der Globalisierung zu erfassen?
In den letzten Jahren nahm in vielen akademischen und außer-akademischen Kontexten die Diskussion an Fahrt auf, wie mikrogeschichtliche Methodik und globalgeschichtliche Fragestellung zusammengedacht werden können. Die Globale Mikrogeschichte kann wie die Globalgeschichte auf eine beeindruckende historiographische Tradition zurückblicken. Die italienische Microstoria , die Alltagsgeschichte und die „Geschichte von unten“ verbanden ihr Interesse an Akteuren mit makrogeschichtlichen Fragestellungen. Daraus entwickelte sich die Globale Mikrogeschichte, die in den letzten Jahren häufig als gelungene Reaktion auf die Kritik an globalgeschichtlichen Synthesen gehandelt wird. Bei den Globalen Mikrogeschichten zeigt sich ein konzeptionelles Problem, das sie mit den globalgeschichtlichen Synthesen teilen. Wie wird das Spannungsverhältnis zwischen Mikro- und Makroebene aufgelöst? Während die Globalgeschichte häufig Akteure aus dem Blick verliert, werden diese zwar von Globalen Mikrogeschichten analysiert, aber das Globale bleibt dann häufig blass. Oft verneinen sie dessen Existenz oder interessieren sich erst gar nicht dafür. Um diese konzeptionelle Lücke mithilfe praxistheoretischer Überlegungen zu schließen, bringe ich Konzepte miteinander ins Gespräch, die häufig als inkommensurabel bezeichnet werden (z. B. Weltgesellschafts- und Praxistheorie). Dies führt in Folge zu einem neuen Verständnis dessen, was unter Globalisierung/en verstanden werden soll (vgl. Kapitel 3.1.).
#Positionalität und Wahrheitsanspruch
Die Frage nach dem Erkenntnisinteresse der Globalhistoriker*innen, also die Frage, warum ein bestimmter Gegenstand untersucht werden soll, ist kaum vom Gegenstand selbst zu trennen. Das klingt trivial. Wer Diamanten sucht, wird nicht nach Gold graben. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass der Gedanke nicht trivial ist, sobald der Gegenstand weniger eindeutig als ein Diamant zu bestimmen ist. Wonach jemand sucht, ist weder ein Zufall, noch liegt es ausschließlich in individuellen Vorlieben begründet. Vielmehr ist das Erkenntnisinteresse wesentlich von dem historischen Standort, der „Positionalität“ der Historiker*innen geprägt. „Positionalität“ ist ein sperriger Begriff, der in der postkolonialen Theorie in den letzten Jahren den Begriff des Standorts oder der Standortgebundenheit oder der Perspektive abgelöst hat. Positionalität wird in Anschlag gebracht, wenn Zugangsregeln, Ein- und Ausschlussmechanismen, Machtverhältnisse in der globalen Wissenschaftswelt kritisch betrachtet werden.
Die Frage nach der Positionalität verweist auf die klassische Frage nach dem Ort, von dem aus Historiker*innen auf die Geschichte blicken. Sie sind immer in einem Machtgefüge verfangen, über das sie nachdenken sollten. Wenn es – theoretisch gesprochen – keinen neutralen Ort gibt, von dem aus Historiker*innen objektiv die Geschichte der Welt beobachten und beschreiben können, von welcher Position aus sprechen sie dann? Globalgeschichte muss sich also zunächst mit diesem Thema auseinandersetzen, bevor das Erkenntnisinteresse formuliert werden kann. Bis zum Ende des letzten Jahrtausends wurden englisch- oder deutschsprachige Globalgeschichten meist aus einer eurozentristischen oder westlichen Perspektive heraus verfasst. Verallgemeinernd stellt sich daher die Frage: Muss die je eigene Perspektive überwunden werden, der eigene Erfahrungshorizont sowie die eigene Tradition, innerhalb der jemand wissenschaftlich sozialisiert wurde? Ist das überhaupt möglich? Oder ist es viel eher so, dass die Gültigkeit von Geschichtsschreibung so mit der Positionalität von Historiker*innen verbunden ist, dass der Wahrheitsanspruch aufgegeben werden muss?
Dass die Perspektive und damit die Positionalität geschichtstheoretische Diskussionen auslösen, trifft nicht erst zu, seitdem Identitätspolitik im wissenschaftlichen System eine größere Rolle spielt. Macht es einen Unterschied aus, wer welches Thema behandelt? Ändert sich die Sichtweise auf ein Thema je nach Perspektive? Diese Fragen weisen zugleich auf ein Spannungsverhältnis zwischen universeller und kulturrelativer Gültigkeit hin. Wenn es einen Unterschied ausmacht, wer mit welcher Perspektive über etwas spricht, können wir dann überhaupt an einem (näher zu bestimmenden) Wahrheitsanspruch festhalten?
Ein kurzer Blick in die Geschichte der Geschichtswissenschaft hilft hier weiter. Im Begriff „Universität“ steckt der über Jahrhunderte tradierte Anspruch universitärer Forschung, nämlich das Streben nach universell gültiger Wahrheit. Geschichtsschreibung wurde bis zum 18. Jahrhundert jedoch überwiegend außerhalb der Universität betrieben. Seit der Professionalisierung der Geschichtsschreibung als akademischer Disziplin im Europa des 19. Jahrhunderts ist sie mit Problemen konfrontiert, mit der sich außeruniversitäre Geschichtsschreibung nicht notwendigerweise auseinandersetzen muss. Aussagen außerhalb der Wissenschaft sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Die Wissenschaft hat aber andere Wahrheitsansprüche. Wissenschaft ist keine Meinung.
Universitäre Forschung basiert auf der Vorstellung, dass es keinen Unterschied ausmacht, ob eine Aussage von einem Kameruner Postdoc, einer kubanischen Professorin, einem französischen Intellektuellen oder einer Wissenschaftlerin der Harvard University behauptet oder widerlegt wird. Der Inhalt der Aussage steht für sich. Wir wissen freilich, dass dies aus zwei Gründen nur die eine Seite der Medaille ist. Zum einen ändert der jeweilige kulturelle und historische Standort tatsächlich das Erkenntnisinteresse und damit das, was in den Blick gerät. Zum anderen sorgen in realiter politische, soziale, kulturelle und persönliche Machtverhältnisse dafür, dass die Aussagen der einen lauter gehört und eher akzeptiert werden als die der anderen. Die Frage nach einem universellen Wahrheitsanspruch geht aber über die notwendige Kritik an real existierenden akademischen Machtverhältnissen hinaus. Sie fragt nach den Bedingungen, unter denen ein universeller Wahrheitsanspruch überhaupt möglich ist, nicht nur in den Geschichtswissenschaften.
Seit dem Linguistic Turn und der damit verbundenen Einsicht, dass Erkenntnis durch die Sprache geprägt ist, in der sie formuliert wird, bezweifeln manche Theoretiker*innen, dass ein Wahrheitsanspruch einer Aussage unabhängig von einer bestimmten Kultur möglich ist. Diese Infragestellung beruht auf der Annahme, sprachlich vermittelte Erkenntnisse seien immer so unablöslich an eine Kultur, eine Zeit, kurz an eine Position des oder der Sprechenden gebunden, dass universell gültige, wahre Aussagen nicht existieren. Pointiert ausgedrückt heißt dies: Wahrheit könne es nur relativ zu einer bestimmten Kultur geben, innerhalb derer bestimmte Aussagen für wahr gehalten werden. Die Argumentationen für und gegen einen Kulturrelativismus der Wahrheit klingt nach einer rein philosophischen Frage, sie hat aber sehr praktische Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung. Es macht einen erheblichen Unterschied aus, auf welche Seite sich Historiker*innen schlagen. Manchen ist dies gar nicht bewusst. Ihre diesbezügliche Positionierung prägt dann ihre unreflektierten Vorannahmen.
Meist verläuft die Streitlinie innerhalb der Globalgeschichte nicht entlang der Diskussion über die Existenz universeller Wahrheit versus Kulturrelativismus, sondern entlang der Linie, wer über welche historischen Gegenstände schreiben kann und sollte. Die in der Politik erhobene Forderung „nothing about us without us“ wird dabei auf die Geschichtsschreibung übertragen. Die im politischen Feld angemessene Forderung, dass nicht über Personen entschieden werden sollte, ohne diese an der Entscheidung zu beteiligen, erhält jedoch durch die Übertragung auf das wissenschaftliche Feld eine andere Note. Sie behauptet, dass Europäer*innen, die über Nicht-Europäer*innen oder Japaner*innen, die über Nicht-Japaner*innen schreiben, in ihrem Denken so stark der eigenen Kultur verhaftet blieben, dass sie notwendigerweise zu falschen Erkenntnissen kommen. Falsch wären diese Erkenntnisse relativ zur Wahrheit der Kultur, über die geschrieben worden ist. Der inhärente Eurozentrismus oder Japanozentrismus oder jedweder andere „Zentrismus“ könne nicht überwunden werden. Die Folge für das Unternehmen Globalgeschichte wäre dann, dass nur Europäer*innen über Europa und Afrikaner*innen über Afrika schreiben dürften. Diese identitätspolitische Argumentation müsste dann auch für andere Gruppen gelten, seien sie marginalisiert oder nicht. Frauen dürften nur über Frauen, Männer über Männer und Trans-Personen über Trans-Personen, Muslim*innen über Muslim*innen, Kinder über Kinder usw. schreiben.
Lassen wir einmal beiseite, dass der Kulturbegriff in einer solchen Argumentation völlig unterbestimmt ist, und konzentrieren uns nur auf die theoretische Ebene, dann ergibt sich das folgende zentrale Gegenargument: Die Forderung nach einer kulturell begründeten Autorschaft basiert auf dem Argument des Kulturrelativismus der Wahrheit. Die These, es gebe keine universelle Wahrheit, scheitert jedoch aus logischen Gründen. Da die These selbst einen universellen Anspruch hat, wäre sie, so sie wahr wäre, zugleich falsch. Eine identitätspolitisch begründete Forderung nach einer spezifischen Autorschaft kann also für die Wissenschaft nicht überzeugen.
Auch wenn die Identitätspolitik in der Wissenschaft keinen Platz hat, darf deren Zurückweisung eine zentrale theoretische Herausforderung der Globalgeschichte nicht verdecken: Viele historische Stimmen, häufig aus ehemaligen Kolonien europäischer Metropolen und aus unterprivilegierten Schichten oder Randgruppen, werden nicht gehört oder zum Schweigen gebracht. Queer History, um nur ein Beispiel zu nennen, markiert erst seit wenigen Jahren einen Blind Spot der Geschichtsschreibung.
Klassisch hat dieses Problem Chakravorty Spivak in ihrem viel beachteten Essay “Can the subaltern speak?” zum Ausdruck gebracht. “Can the subaltern speak?” bezeichnet ein hermeneutisches Grundproblem der Geschichtsschreibung, das sich in der Globalgeschichte aufgrund ihres Anliegens ganz besonders prominent stellt. Globalgeschichten laufen immer Gefahr, den kulturell eingefärbten Vorannahmen ihrer Verfasser*innen verhaftet zu bleiben und fälschlicherweise (!) solchen Aussagen universelle Gültigkeit unterstellen, die tatsächlich nur Ausdruck der eingeschränkten Sichtweise ihrer Autor*innen sind. Die weiterführende Erkenntnis postkolonialer Theorie besteht deshalb darin, die Fehlerhaftigkeit westlicher Sichtweisen damals und heute aufzuzeigen , und nicht etwa darin, Wahrheit zu relativieren. „The danger of a single story“, wie die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie das genannt hat , besteht darin, alles einseitig einzufärben und diese einseitige „Story“ für die einzig wahre zuhalten. Machtstrukturen, innerhalb derer diese „Single Stories“ entstehen und zum Mainstream erhoben werden, werden so effektiv verschleiert.
Manche postkolonialen Theoretiker*innen sprechen statt von der kritischen Reflexion der Positionalität eher davon, Begriffe zu de-kolonisieren. Der Gedanke liegt insofern nahe, als Geschichte als wissenschaftliche Disziplin in den Universitäten des Nordens, allen voran an deutschen Universitäten, im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Geschichtswissenschaft war eingebunden in die Zivilisierungsmission. Im Imperialismus wurde sie disziplinär geformt und anschließend über die Welt verbreitet. Die Geschichte der Universität und der akademischen Wissensproduktion ist selbst ein Paradebeispiel der Geschichte der Globalisierung. Diese Geschichte lässt sich mit der Methode der Globalen Mikrogeschichte hervorragend untersuchen (Gärtner/Wilckens 2022). Vom Kolonialismus geprägte Praktiken des wissenschaftlichen Arbeitens bestimmten und prägten auch die entstehende Geschichtsschreibung von Anfang an. Die Einteilung der Welt in „people with“ und „people without history“ fand ihre Entsprechung in der entstehenden Arbeitsteilung zwischen Ethnologie und Geschichtswissenschaft. Beide Disziplinen waren rassistisch geprägt und stabilisierten mit ihrer Forschung zugleich rassistisch begründete weltweite Asymmetrien. Das Zu- und Abschreiben von Geschichtsfähigkeit wurde auf globaler und auf lokaler Ebene zum Kriterium des zivilisatorischen Standes. Frauen wurde im Zuge der Dichotomisierung der Geschlechtscharaktere in den bürgerlichen Kreisen Europas und der USA im 19. Jahrhundert Geschichtsfähigkeit ebenso abgesprochen.
Der koloniale Entstehungskontext prägt viele geschichtswissenschaftliche Begriffe und Denkweisen bis heute. Deren Dekolonisierung ist jedoch weder ein Selbstzweck noch ein Allheilmittel, sondern birgt eigene Fallstricke. Olúfémi Táiwò hat gezeigt, dass eine Ausdehnung der Dekolonialisierung auf alle kulturellen, politischen, intellektuellen sozialen und sprachlichen Bereiche dazu führt, die Kolonisierung für immer ins Zentrum der Leben der ehemaligen Kolonialisierten zu stellen, anstatt dieses Paradigma zu überwinden. Ohne den Einfluss des Kolonialismus schmälern zu wollen, sei es unabdingbar, hinter dem Kolonialismus nicht alle anderen Erfahrungen und alle philosophischen Überlegungen verschwinden zu lassen. Ziel, so Táiwò, müsse es sein, die „African agency“ sichtbar zu machen, die sowohl vom Kolonialismus als auch seinem Erbe durchdrungen sei. Dann sei es möglich, entweder aus einer afrikanischen Tradition für eine liberale Demokratie zu argumentieren oder aber den vom Westen „geliehenen Institutionen“ zu ihrer eigentlichen Bestimmung zu verhelfen.
Im Folgenden verwende ich den Begriff der Positionalität, um auf das grundlegende hermeneutische Problem zu verweisen, von dem jegliche Geschichtsschreibung betroffen ist. Dass analytische Begriffe von ihrem kolonialen Entstehungskontext geprägt sein können, ist eine zentrale Spielart dieses Problems neben anderen. Die Reflexion der jeweils eigenen Positionalität, des eigenen Standorts oder der Perspektive, die Historiker*innen einnehmen, um möglichst alle implizite Vorannahmen explizit und streitbar zu machen, kann mit der Dekolonisierung beginnen. Sie sollte da aber nicht stehen bleiben. Andere Vorurteile, wie geschlechtsspezifische, klassistische oder modernistische, sollten ebenfalls aufgedeckt werden. Begriffe auf das grundsätzliche Erkenntnisproblem hin zu befragen, ist deshalb so anspruchsvoll, weil auch die Alltagssprache ein Einfallstor für kulturelle und andere Verzerrungen in der Wissenschaft ist. Dies möchte ich mit einem empirischen Beispiel illustrieren.
Die Wirkmächtigkeit der Alltagssprache zeigt sich in unserem Verständnis des Begriffs „Familie“. Wer den Begriff der „Familie“ auf die Kleinfamilie einschränkt, wie sie sich im 19. Jahrhundert in westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften als bürgerliches Ideal etablierte, verstellt den Blick auf andere familiale Beziehungsstrukturen. Was unter „Familie“ verstanden wird, ist abhängig von Epoche, Kultur, gesellschaftlicher Lage. Besonders deutlich wird dies in kolonialen Kontexten. Hellsichtig beschrieb der afroamerikanische Soziologe W. E. B. Du Bois Anfang des 20. Jahrhunderts die desaströsen Auswirkungen des spanischen Kolonialismus auf familiale Strukturen in Kuba. Er bezog sich damit nicht nur auf die Zerstörung von verwandtschaftlichen Beziehungen, wenn beispielsweise afrikanische Kinder im Zuge der Versklavung von ihren Eltern getrennt wurden. Er wies damit auch auf eine soziale Verwüstung hin, die die familialen Beziehungen von bereits in Kuba geborenen Kindern zerstörte. Versklavte Afrikanerinnen konnten im neuen Kontext nicht auf eine Dorfgemeinschaft setzen, die sich für die Versorgung von Kindern verantwortlich fühlte. Die Dorfgemeinschaft war in ihren Herkunftsregionen jedoch Teil der familialen Beziehungsstruktur gewesen. Das Verständnis von Familie und Verwandtschaft war nicht mit den Vorstellungen der spanischen Kolonialisten zur Deckung zu bringen. Die Hybridisierung sozialer familialer Formen führte zu einer Zerstörung des sozialen Systems der Kinderversorgung. Die sich auf Kuba seit dem 16. Jahrhundert etablierenden „cabildos de nación“ – Zusammenschlüsse von freien und versklavten Afrikaner*innen – schufen zwar einen sozialen Raum, der für das kulturelle Überleben notwendig war, sie stellten aber keinen Ersatz für die Dorfgemeinschaft dar. Wie der kubanische Anthropologe Fernando Ortíz in seiner Studie 1906 über die afrokubanische Religion nachzeichnete, waren die Cabildos nicht in der Lage, die durch die Versklavung entstandene Not aufzufangen. Die Studie von Ortíz ist selbst zutiefst in den ‚Rasse‘-Diskurs der Zeit und den entstehenden Sozialdarwinismus verstrickt. Heute ist sie, gegen den Strich gelesen, eine wichtige Quelle über die afrokubanische Kultur. Wie stark die Cabildos unter kolonialer Kontrolle standen und wie sie gezwungen wurden, ihre Kultur und Religion dem Katholizismus unterzuordnen, konnte in den letzten Jahren offen gelegt werden. Sogenannte „Fetische“ (der Begriff verweist auf das koloniale Abwertungssystem) waren verboten. Unter diesem Druck entstand der spezifische kubanische religiöse Synkretismus als strategische Form der Verschleierung. Derartige Erkenntnisse sind nur möglich, wenn nicht von Vorneherein ein bestimmtes Familienverständnis in die Untersuchung getragen wird. Geschlechtergeschichtliche, koloniale, klassistische oder religiöse Vorurteile prägen die Alltagssprache, aber auch die vermeintlich neutrale wissenschaftliche Sprache schon lange und tun dies bis heute.
Die Reflexion der inhärenten Vorannahmen auch der alltagsprachlichen Begrifflichkeit hilft hier weiter. Die Geschlechtergeschichte hat gezeigt, dass der Begriff „Familie“ auch in nicht kolonialen Kontexten zu blinden Flecken führt, wenn er naiv gebraucht wird und ein fixiertes Beziehungsmodell in die Geschichte projiziert. Globalgeschichte muss also besonders selbstkritisch bezüglich des eigenen analytischen und alltagssprachlichen Vokabulars sein, um überhaupt zu erkennen, dass die Vorstellung, Vater-Mutter-Kind seien eine Familie, als historisches Konstrukt mit einer bürgerlichen Schlagseite mit einem bestimmten Geschlechtermodell verbunden ist und nicht auf andere Zeiten und Kulturen übertragen werden kann. Begriffsgeschichtlich informierte Studien, wie beispielsweise Margit Pernaus Monografie „Bürger im Turban“, geben kenntnisreiche Einblicke in den Umgang mit analytischer Begrifflichkeit in der Globalgeschichte.
Die Positionalität, der Standort der geschichtsschreibenden Person, prägt den Zuschnitt der möglichen Fragestelllungen an die Geschichte und des Gegenstands der Geschichtsschreibung. Dies ist keine neue Erkenntnis. Bereits Chladenius sprach im 18. Jahrhundert von der „Standortgebundenheit“ der Historiker – obwohl es auch damals Historikerinnen gab, hat er sie nicht mitgedacht. Chladenius war aufgrund seines rationalen und vorkritischen Weltverständnisses der Meinung, der Standort einer Person habe insofern objektiven Charakter, als jede Person vom selben Standort aus dasselbe erkennen könne. Dies ist einer der Gründe, warum es besser ist, von „Positionalität“ zu sprechen. Die Objektivität der Geschichtsschreibung kann nicht losgelöst von der Subjektivität der Erkenntnismöglichkeiten der Historiker*innen definiert werden, losgelöst von der akademischen Sozialisation, von gesellschaftlichem Status und anderem mehr. Objektivität liegt stattdessen im Kriterium der Falsifizierbarkeit von Aussagen und der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit begründet. Dennoch ist es beachtlich, wie lange schon über das hermeneutische Problem der Standortgebundenheit nachgedacht wird.
Wenn Chimamanda Ngozi Adichie davor warnt, die Wahrheit einer einzelnen Geschichte fälschlicherweise zu generalisieren, dann impliziert diese Warnung ein Gebot für die Geschichtsschreibung im Allgemeinen und für die Globalgeschichte im Besonderen: das Gebot der Multiperspektivität. Die je eigenen Beschränkungen, die impliziten Vorannahmen, mithin die eigene Positionalität, sind viel einfacher zu erkennen, wenn sie mit einer anderen kontrastiert wird. Die Zukunft der Globalgeschichte liegt daher in gemeinsam verfassten Texten – ein Unterfangen, das in den Geisteswissenschaften noch wenig eingeübt ist, von manchen Autorenteams aber schon erprobt wurde.
Die Forderung nach Multiperspektivität wird durch die Beschreibung der spezifischen Positionalität von Kolleg*innen unterstrichen, die bisher wenig gehörte Stimmen in die wissenschaftliche Diskussion einbringen. Der von Staci B. Martin und Deepra Dandekar herausgegebene Sammelband über “Global South Scholars in Western Academia” zeigt an vielen Beispielen, wie Wissenschaftler*innen aus dem sogenannten Globalen Süden aus der spezifischen Mischung von je eigener Forschungstradition, Wissensproduktion und Academia des sogenannten Globalen Nordens Erkenntnisgewinne erzielen. Die Herausgeberinnen bezeichnen diese spezifische Positionalität als hybriden Raum, als „third space“ im Sinne Homi K. Bhabhas. Multiperspektivität, der Zusammenprall oder der Austausch unterschiedlicher Positionen führt dazu, dass unterschiedliche Praktiken der Forschung aufeinandertreffen, sich im besten Falle aneinander abarbeiten, reiben, überlagern, weiterentwickeln und so zu neuen Praktiken führen.
Festzuhalten aus dem theoretischen Exkurs über das Erkenntnisinteresse, die Positionalität, den Wahrheitsanspruch und die Wissensproduktion innerhalb akademischer Machtverhältnisse ist Folgendes: Das Erkenntnisinteresse ist geprägt von der Positionalität der Historiker*innen. Wenn die Positionalität das Erkenntnisinteresse nicht ungewollt dominieren soll, muss sie grundlegend reflektiert werden. Wer sich klar macht, dass die Quellen in den Archiven stets diejenigen sind, die bewusst aufbewahrt werden und das Denken der Nachwelt bestimmen sollten, kann sich von dem Erbe befreien und sich auf die Suche nach den Spuren derjenigen machen, deren Erinnerungen von den herrschenden Zeitgenossen als nicht bewahrenswert angesehen wurden.
An dem Ideal eines kulturunabhängigen, begrifflichen analytischen Rasters sollte auch in der Globalgeschichte unbedingt festgehalten werden. Es stehen ihm in der Realität jedoch nicht nur hermeneutische Schwierigkeiten, sondern auch äußerst wirksame, über Jahrhunderte tradierte Machtverhältnisse entgegen. Sie affizieren die vermeintlich neutrale Begrifflichkeit. Nicht nur die vergangenen Machtverhältnisse sind einflussreich und beeinträchtigen die Kulturunabhängigkeit historischer Aussagen, sondern auch gegenwärtige. In welcher Sprache veröffentlicht wird (meist Englisch), welche Sprache rezipiert wird (schon Französisch ist schwierig, Studien in einer asiatischen oder afrikanischen Sprache haben kaum eine Chance, von europäischen Historiker*innen gelesen zu werden), wer Zugang zu Forschungsliteratur oder Quellen hat, was überhaupt als „Quelle“ gilt – geprägt ist all dies sowohl von nationalen (was fördert meine Karriere in einem bestimmten Land?) als auch von globalen Machtstrukturen (welche Gesellschaft hat welche finanziellen Ressourcen zur Verfügung?).
Daraus ergeben sich zwei Forderungen an die Globalgeschichte: erstens die Multiperspektivität innerhalb von Autorenteams oder durch die möglichst neutrale Darstellung von und konstruktive Auseinandersetzung mit kontroversen Positionen anderer; und zweitens, die Reflexion, wie das eigene Erkenntnisinteresse mit der Positionalität verwoben ist.
Ob es das Erkenntnisinteresse der Globalgeschichte überhaupt geben kann und ob es der Globalgeschichte gelingen kann, an dem Streben nach universeller Gültigkeit festzuhalten, obwohl ihre Autor*innen und ihre Produktionsbedingungen so stark von subjektiven und standortbezogenen Faktoren geprägt sind, ist Thema in Kapitel 2.1. Dort geht es um die Forderung, dass Historiker*innen über ihre „Positionalität“ und ihr Erkenntnisinteresse reflektieren sollten, so gut sie es trotz aller hermeneutischen Schwierigkeiten eben können. Wenn analytische und Alltagssprache und Erkenntnisinteresse so stark von der Positionalität und der akademischen Sozialisation der Historiker*innen geprägt sind, sollte ein anspruchsvolle Globalgeschichte methodisch auf einer Pluralität der Sichtweisen, auf Multiperspektivität, auf Vielstimmigkeit beruhen. Dazu kann sie viel von der postkolonialen Theorie lernen, sollte sich in entscheidenden Annahmen (Stichwort: kulturrelativistisches Wahrheitsverständnis) aber davon abgrenzen.